35a* Deluxe Editions I. "Der schwere Mut/Die Städte..."

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Thofrock
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35a* Deluxe Editions I. "Der schwere Mut/Die Städte..."

Beitrag von Thofrock »

Ich fang mal mit dem ersten Set an, und poste meine Rezi bei einem kleinen Versandhändler aus Bad Hersfeld:


VOLLBEDIENUNG, NICHT NUR FÜR FANS DER ERSTEN STUNDE

Es ist jetzt über 30 Jahre her, dass HRK "Der schwere Mut" veröffentlichte, und mit dem Album auf Tour ging. Auf dieser Tour wurden bereits so viele neue, also nicht auf DSM enthaltene Songs gespielt, dass das Livealbum zur Tour eine echte Schatzkiste war. Eine Schatzkiste allerdings, die man auf vier Vinylscheiben nur sehr bedingt unterbringen konnte. In diesem Set ist nun die alte Live-Doppel-LP/2-CD um sage und schreibe 11 Tracks ergänzt worden. Damit aber nicht nicht genug. Die erste CD dieses Dreier-Sets, enthält nicht nur "Der schwere Mut", sondern weitere sechs Bonus-Titel, die es in sich haben und die Disc auf 76 Minuten steigern.
Wem das noch nicht reicht, der sei auf die wunderbare digitale Bearbeitung von Heiner Lürig hingewiesen (der übrigens erst 1985 zu Kunze stieß, und an diesen Aufnahmen noch nicht beteiligt war), die ein frisches und druckvolles Flair schafft, und den Songs mehr Dynamik verpaßt. Dazu liefert Rakete neu gestaltete Booklets mit Linernotes, allen Texten und neuem Bildmaterial.

Zu den Ausgangsalben schreibe ich mal nichts, da dürften genug Rezis vorhanden sein. Sie sind Klassiker des Deutschrock und verdienen auch ohne Beigaben die Höchstwertung. Aber diese Neueditionen bekommen nun einen Mehrwert verpaßt, der den langjährigen Kunze-Liebhaber und Sammler jubeln läßt.

Niemals erschienen, lediglich auf Uralttapes einer NDR-Radiokonzertaufnahme unter Hardcorefans getauscht, ist "Peter Paletti", der völlige Hammer. Der fast neunminütige Song mit mehr denn je frappierender Aktualität erzählt die Geschichte eines Produzenten, der über den Versuch, den einen perfekten Song zu schaffen, in den Wahnsinn getrieben wird. Heinz bringt in diesem Song bereits 1981 die Vision unter, Käuferverhalten anhand von Marktsegmentierung zu erforschen, was heute tatsächlich absolut üblich ist. Da der Song seinerzeit für das zweite Album zu lang war, wurde er nur live gespielt, und liegt hier in einem One-Man-Piano-Demo vor, das aber auch ohne den dramaturgischen Aufbau der Livefassung ein Traum ist.
"Sicherheitsdienst" gibt es hier in der raren Studiofassung, von der es seinerzeit eine Vinyl-Single gab, und die Pianoballade "Lebensabend" war die B-Seite dieser Single. Völlig unbekannt sind das groovige "Eines Besseren belehrt" und das schräge, durchaus Talking Heads-beeinflußte "Wir gratulieren", in dem Mick Franke in seinem Element ist.
Dazu kommt noch "Deutschland (Verlassen von allen guten Geistern), in einer dezenten Studiofassung.

Die ersten drei Seiten "Die Städte sehen aus wie schlafende Hunde" befinden sich in diesem Set nun auf der zweiten Disc, womit für Disc 3 viel Platz frei wird, und die Albumspielzeit sich mal eben um eine schlappe Stunde auf knapp 140 Minuten erhöht. Mein absoluter Favorit der Bonus-Titel ist die tolle Version von "Lamm Gottes" mit fantastischem Keyboardsolo. Und hier merkt man wirklich mit allen Sinnen, was Heiner Lürig aus den uralten Bändern rausgeholt hat. Ich hätte dieses Resultat nie für möglich gehalten. Ganz Ähnlich ist es bei "Hilfe von Außen", "Keine Reaktion", der überlangen, düster wavigen "Fütterung", und der wunderbaren "Romanze". "Der letzte Dreck", eine Nummer die erst auf dem nächsten Studioalbum erschien, gibt es übrigens als ebenfalls unveröffentlichtes Klaviersolo, hier dageboten als vierte oder fünfte Zugabe.

Übrigens war die "Schwere Mut"-Tour die erste, die ich von HRK gesehen habe. Und wie viele Andere, habe ich den Abend im Göttigner Jugendfreizeitheim weitgehend mit offenem Mund verfolgt. Dass es von der Tour ein Livealbum gab, war damals ein riesiges Geschenk. Dass nun, über 30 Jahre später, eine technisch deutlich verbesserte und um eine Stunde ergänzte Version in den Handel kommt, ist zum Heulen schön.

Schaut auch mal nach den anderen vier Deluxe Editions aus dieser Serie. Die sind einen Hauch weniger nostalgisch, aber mit genausoviel Hingabe und rarem Stoff gefertigt. Und mit Geld sowieso nicht zu bezahlen.
frillenmeister
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Re: Deluxe Editions I. Der schwere Mut/Die Städte...

Beitrag von frillenmeister »

Wo ist der Like-Button, wenn man ihn braucht?
... und Träumer sind Gewinner.
heikomannes
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Re: Deluxe Editions I. Der schwere Mut/Die Städte...

Beitrag von heikomannes »

Meine "Karriere" begann damals mit einer Musikkassette "Der schwere Mut" aus der öffentlichen Bücherhalle in meinem damals wertvollsten Gerät: Einem Walkman-Nachbau (von Quelle?). Ich habe die Kassette immer wieder gehört, bis es wegen leerer Batterien leierte. Alle anderen Kassetten von Kunze waren immer ausgeliehen, ich weiß bis heute nicht warum. Darum konnte die Neuauflage nur gut werden.

Der Norweger-Pullover von der Live-Platte war wiederum noch Jahre später ein Dauerbrenner-Schnack im Freundeskreis.

Ich kann also diese Neuauflage nicht neutral rezensieren und bewerten. Da steckt zu viel von dem drin, was eben in Platten steckt, die einen in der Jugend begleiten, wenn man als Junge dann irgendwann die Musik entdeckt. Alleine deswegen hat mich das wiederholte Durchhören der beiden Platten in der laufenden Woche im Nachgang zu einem erkältungsbedingten Fieberwahn sehr berührt.

Nun noch ein paar weitere Titel auf der Live-LP zu bekommen, Thofrocks esoterisches Gefasel von Peter Paletti endlich zu verstehen und noch die "Linernotes" zu lesen, in denen zwischen jeder Zeile echte Liebe zum Künstler/seinem Produkt durchklingt, macht es für mich perfekt.

Die erste Runde Neuauflagen hat mich nicht so extrem erwischt. Das liegt sicher massiv an der biographischen Wirkung genau dieser beiden Platten.
Thofrock
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Re: Deluxe Editions I. Der schwere Mut/Die Städte...

Beitrag von Thofrock »

heikomannes hat geschrieben:, ...Thofrocks esoterisches Gefasel von Peter Paletti endlich zu verstehen...
Kalle? Der Heiko ist wieder gemein zu mir. Muss ich mir das bieten lassen?
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Re: Deluxe Editions I. Der schwere Mut/Die Städte...

Beitrag von Kalle »

Such dir bitte einen Anwalt. Meine Empfehlung: Heiko Mannes Hamburg
Schreibe (Redet), was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es lesen (hören).
Epheser 4,29
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Re: Deluxe Editions I. Der schwere Mut/Die Städte...

Beitrag von heikomannes »

Thofrock hat geschrieben:
heikomannes hat geschrieben:, ...Thofrocks esoterisches Gefasel von Peter Paletti endlich zu verstehen...
Kalle? Der Heiko ist wieder gemein zu mir. Muss ich mir das bieten lassen?
Petze!
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Re: Deluxe Editions I. Der schwere Mut/Die Städte...

Beitrag von DasUltimatum »

"Peter Paletti" ist tatsächlich großartig! Aber auch "Eines Besseren belehrt" und "Wir gratulieren" hätten eine frühere Publikation verdient!

"Lebensabend" ist ganz nett; eine schöne B-Seite.
MartinB
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Re: Deluxe Editions I. Der schwere Mut/Die Städte...

Beitrag von MartinB »

Die Städte sehn aus wie schlafende Hunde - eine kleine Zeitreise:

Damals im Musikexpress begeistert gelesen, daß es eine Live-Scheibe von Kunze gibt, das Ding sofort beim Dorfelektroladen mit Plattenecke bestellt, ein paar Tage später erstmal langgesichtig mit wachsender Enttäuschung die Platte gemustert. Scheisse, da waren ja kaum Stücke drauf, die ich kannte... aus heutiger Sicht natürlich eine infantile Erstbewertung, aber so war ich seinerzeit noch drauf. Der schwere Mut zog aus hier unerheblichen Gründen erst 1988 bei mir ein, was ich bis dahin kannte waren nur die ersten beiden Platten und das Radiokonzert 81. So fand ich nur popelige fünf vorvertraute Nummern abgedruckt, und von meinen damaligen Favoriten waren nur Noch hab ich mich an nichts gewöhnt und Nachts um halb Drei dabei. Was mich auch zunächst maulig machte waren die vielen als "Text:" angekündigten Beiträge, denn ich war der Ansicht, auf Platten habe gefälligst Musik zu sein. Beim Radiokonzert fand ich das zwar klasse, und ich äffte Heinz sogar nach, indem ich bei Auftritten unserer Kapelle "Schiminsky" selber zwischendurch mundgeblasene Texte vortrug (was erstaunlich gut ankam), aber auf Platte wollte ich sowas eigentlich nicht haben. Kostbare Spielzeit für sowas zu verschwenden fand ich eine Frechheit...

Ein paar Minuten später ein unvergesslich magischer Moment -> "stiere hinaus in das morgengraue Arschloch der Nacht" riss mich zu Boden vor Ergriffenheit angesichts dieser bombastischen akustischen Gewalt, die meine Anfangsskepsis lichtschnell überwältigte. Immer noch einer meiner Lieblingsmomente übrigens. Diesen als Referenzpunkt für die Beurteilung des neuen Soundgewandes anwendend stelle ich fest: reife Leistung von Herrn Lürig, das klingt spürbar kräftiger, transparenter und räumlicher als zuvor. Steigert den Genusswert der schlafenden Hunde deutlich, deshalb herzlichen Dank an Heiner für diese gelungene Runderneuerung. Die schlafenden Hunde erstrahlen in neuem Glanz, faaabelhaft!

Mir ist nach Selbstentblössung zumute, deshalb beichte ich hier noch kurz meinen weiteren Umgang mit dem Album, mit der Bitte um mildernde Umstände wegen damals noch musikalischer Unmündigkeit pepaart mit einem gewissen Jugendstarrsinn. Neben einigen sensationellen Neuentdeckungen (Lisa, Keine Angst, Sicherheitsdienst, Pornos, Der schwere Mut) "fand" ich jede Menge "Schrott" auf den Platten. Die Texte störten meinen Hörfluss, und Stücke ohne Schlagzeug waren sowieso keine richtige Musik für mich (was im Gegenzug bedeutete, dass Bestandsaufnahme endlich in meine Favoritenliste aufsteigen konnte). Also bastelte ich mir eine Cassette zusammen ohne diesen ganzen "überflüssigen Kram", wobei ich Du also bist mein Tod sowie das rhythmusmaschinenverseuchte Kinderlied wegliess und hier und da Appläuse ausblendete, um alles auf einem C-60-Tape unterzukriegen. Ich errechnete mir sogar eine individuelle Trackliste, die mich beide Seiten des Bandes optimal ausnutzen liess, sollte ja alles richtig passen.... Diese Cassette hörte ich dann beglückt bis ich sie quasi auswendig konnte und Jahre darüberhinaus, bis sie sich irgendwann auf mysteriöse Weise dematerialisierte.

Danach konnte ich auf die glücklicherweise wohlerhaltenen LPs zurückgreifen und hatte das Vergnügen, auch den Rest des Inhalts endlich so richtig würdigen zu können. Das war mir wie eine zweite Begegnung mit den schlafenden Hunden, auch weil ich inzwischen einen gewissen Sinn für Konzertdramaturgie entwickelt hatte und die originale Reihenfolge der Stücke sowie das Gesamtkunstwerk dahinter ruckzuck als stimmig erkannte. Die dritte Begegnung mit dem Material - wiederum etliche Jahre später - fand statt, als ich mir die CDs zulegte, wobei ich wieder, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen bemängelte, was ich bereits am Anfang missbilligte, nämlich diesmal das gänzliche Fehlen von mir unbekanntem Bonusmaterial... Vom schweren Mut, der mir inzwischen wohlvertraut war, hätte ich z.B. gern mehr gehabt als nur zwei Stücke. Tja, und nun gehts in die vierte Runde und mein Glück ist vollkommen, denn das bekannte Material klingt so schön wie nie zuvor, ich bin in jede Sekunde davon heftig vorverliebt und zudem gibt es Zusatzmaterial satt, darunter drei Stücke die ich schon 1984 heftig vermisste und fünf schwermütige Nachzügler.

Die Fütterung hätte ich 1984 weder verstanden noch gutgeheissen. Dreissig Jahre reifer macht mir das Ding herrlichen Unspass. Es gibt eine klitzekleine Stelle mitten im Gehirn, genauer gesagt im Balken zwischen den Hirnhälften, an der die Verknüpfung des Kurzzeit- mit dem Langzeitgedächtnis stattfindet, und sinnigerweise wirkt Heinzes glasklare Stimme bei Genuss mit Kopfhörern wie in genau diese Stelle hineinprojeziert. Das passt doch... Zudem erfreue ich mich an den zusätzlichen Piano/Keyboardattacken, die dem ohnehin schon schwer gestört wirkenden Stück noch zusätzlichen psychotischen Schub verleihen.

Hilfe von aussen lässt verstehen, dass Heinz hier und da in die NeueDeutscheWelle eingeordnet wurde. Klingt genauso pekig wie zuvieles aus der Endphase dieser originellen Zeit. Bildet, vielleicht ungewollt, den (Un-)Geist dieser Billigprodukte sauber ab. Der abrupte Schluss gefällt mir vielfach besser als die lieblose Ausblende auf der LP.

Ausgerechnet Keine Reaktion bei den schlafenden Hunden nicht vorzufinden fand ich unverzeihlich. Umso grösser meine Freude, diesen grandiosen Hirnfick jetzt mit einigen abweichenden akustischen Ferkeleien versehen in Bestqualität nachgeliefert zu bekommen. Hätte ich eine HRK-TopTen-Liste stünde das Teil sicher mit darin. Wo kann man beantragen, dass es mal wieder ins Liveprogramm aufgenommen wird? Gern auch bei der nächsten Runde Räuberzivil...

Zunder erinnert mich - wie alle Hundetexte - an mein Vorhaben, mal sämtliche Sprechtexte aus Liveprogrammen chronologisch geordnet zu einer Art Hörbuch zu verarbeiten. Die Dinger versprühen und konservieren dermassen intensiven Zeitgeist, dass sie zusammengesetzt z.B. in Schulen als Geschichts(hör)buch angewendet werden könnten. "Die Weltgeschichte der BRD in Texten von Heinz Rudolf Kunze" könnte sich als hilfreich erweisen zu verstehen was war und wie es zu dem gekommen ist, was daraus wurde. Zudem ist davon auszugehen, dass die Serie fortgesetzt wird...

Geht das nicht alles nochn bisschen schneller schiesst anfangs etwas übers Ziel hinaus, was m.E. hauptsächlich am Drummer liegt. In der ersten Strophe klingts als versuche der Miklis den Stickdorn (schöner Drummername übrigens) zu adaptieren, was einigermassen in die Hose geht. Schön, dass er sich ab dem ersten Refrain auf seine eigentliche Tugend - stoische konkrete Wucht - besinnt und das Stück dann doch noch geordnet abgehen lässt. Mir gefällt, dass dieser stilistische Fauxpas trotz Peinlichkeitsrisiko unterm Tisch hervorgekramt wurde. So ist das nunmal mit der Livemusik und mir macht es besonderes Vergnügen zuhören zu dürfen wie ein Trommler den ich schätze die Kunst des NochdieKurvekriegens anwendet.

Manöver leitet stimmig, anrührend und etwas gruselig Lamm Gottes ein und wirft bei mir zum wiederholten male die zugegeben müssige Frage auf wie sich Heinzes Leben und Werk wohl weiterentwickelt hätte, wäre er den im Frühwerk sehr präsenten Katzen treu geblieben. Seit geraumer Zeit steht er ja mehr auf Hunde... (ein nicht nachvollziehbarer Sinneswandel für einen lebenslang Katzenjunkie).

Beim Lamm Gottes, immer wieder für einen Halskloss gut, finde ich die bassistischen Eskapaden des Herrn Kappl in der dritten Strophe ungewöhnlich. Während des ganzen Konzertes werden die Musiker nach meinem Empfinden an einer vergleichsweise langen Leine gehalten. Jeder darf hier und da mal ein paar recht spontan klingende Mätzchen zum bässten geben, was das ganze schön authentisch klingen lässt, auch wenn es gelegentlich überambitioniert wirkt. Ebenso freundlich im Sinne von Erhalt der Atmosphäre die kleine Interaktion mit dem Publikum vor dem letzten Dreck. "Heinzi", hehe... "Bei der Arbeit!", dito... Und "Heinzi! Heinzi!"-Rufe bei der Zugabenforderung haben auch einen besonderen Charme. So dahinskizziert mag ich den letzten Dreck allerdings eher aus historischem Interesse und der Vollständigkeit halber. Romanze wäre m.E. Pflichtprogramm schon bei der Erstauflage gewesen.

Die beiden letzten Stücke machen mir besonders grossen Spass. Man kann doch zu sich stehen wie man will, möglicherweise mein Lieblingsstück vom schweren Mut, ist ergreifend engagiert vorgetragen. Die akustische Guitarre im letzten Drittel, aber vor allem Heinzes Ringen mit sich selbst (man hört deutlich, wie er eigentlich am Ende ist, es aber doch noch schafft, seine Reserven zu mobilisieren) sind äusserst delikat, ebenso das Gedödel der Band und der intime Umgang mit dem Publikum danach. Klingt nach Schweiss, Rauch und Glückshormonen. Band und Publikum sind sich einig. Der siebte Juli vormittags wirkt wie ein Nachspiel nach wirklich gelungenem Sex. Die ergänzenden Texteinschübe (Spandau Ballet) beschwören nochmal wirksam den Zeitgeist. Ich erinnere mich meiner Erschöpfung nach dem ewig andauernden Konzert in Hildesheim (oder Hameln?) 1984 - genau so hat es sich angefühlt am Ende. Ich konnte nicht mehr, war vollstens befriedigt, gesättigt und vollbedient, und der Kapelle schien es ebenso zu gehen. Das war keine "Show" damals, das war ein Konzert im besten Sinne des Wortes. Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt die vorliegende Aufnahme bei mir. Das ist sie, die Retro-Zentrifuge, und sie funktioniert prächtig.

Das Bonusmaterial klingt zwar rauher und gröber als der "offizielle" Teil, wobei aber jedes Detail klar zu orten und die seinerzeit herrschende Stimmung aufs trefflichste dokumentiert ist. Ich erfinde für diesen Zweck mal vorübergehend das Wort "liver", um auf den Punkt zu bringen, was genau mir daran auf- und gefällt. "Liver" gehts wirklich nicht. Ich bin von vorne bis hinten begeistert, ebenso von oben nach unten und von rechts nach links. Was für ein gelungenes Tondokument. Wow! Danke, Heiner, Phil, Heinz und dem involvierten Bodenpersonal. Das habt Ihr sehr sehr gut gemacht.
Tod der Musikindustrie!
MartinB
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Re: 35a* Deluxe Editions I. "Der schwere Mut/Die Städte..."

Beitrag von MartinB »

Ich bin mal so frei, mich nochmal zu äussern, nachdem ich die CDs in den letzten Tagen wieder heftig konsumiert habe. Meiner Gewohnheit, längere Texte auf Wordpad vorzubereiten und dann reinzukopieren ist geschuldet, dass Wiederholungen möglich sind. Ich lern mein Geschreibsel ja nicht auswendig.. Also:

Der Remix der schlafenden Hunde ist exzellent gelungen. Schön transparenter Sound - im Vergleich mit der "alten" Aufnahme ist ein messbarer Horchwertzuwachs zu verzeichnen. Da hat Heiner ganz wunderbar sensibel dran herumgeschraubt. Umso löblicher angesichts der Tatsache, dass er selbst ja eigentlich gar nichts damit zu tun hatte... Ich freue mich und sage mal ganz artig "Dankeschön". Die schlafenden Hunde haben mich seinerzeit tief berührt, was auch heutzutage noch deutlich in mir nachhallt. Mir fallen beim Hören alle Jugendsünden wieder ein, und die schönsten zuerst. Wie schön, daß diese superbe Live-"LP" auch 30+ Jahre später noch Herz und Hirn zum klinge(l)n bringt...

Als Besucher der damaligen Show (in Hildesheim) hätte ich mir jedoch lieber eine Dreier-LP gewünscht, oder eine vetrautere Setliste... Klar, war schon verständlich, daß dies ein etwas überzogener Wunsch war, und ich war auch sehr schnell glücklich mit der DoLP wie sie war. Fand es anfangs aber ein bisschen ungemütlich, daß der (gefühlte) Schwerpunkt auf den bis dato unveröffentlichten Songs lag. Wurden doch etliche Stücke gespielt, die ich in- und auswendig kannte und von daher schmerzlich auf den Platten vermisste. Seinerzeit war ich noch so drauf, daß das Bekannte (erstmal) die "bessere" Musik war. Naja, sowas wie "Bonustracks" usw. waren noch Zukunftsmusik. Im Nachhinein verstehe ich schon, daß Heinz Bock drauf hatte, so viel Neues wie möglich unters Volk zu streuen, waren doch auch für den Künztler die Möglichkeiten sich zu äussern deutlich beschränkter als heutzutage.

Von daher gilt meine besondere Freude nach wie vor der ungewöhnlich umfangreichen Bonusabteilung, wo all das nachgeholt wurde, was ich 1984 vermisste. Ich glaube, es fehlt nur Für nichts und wieder nichts, sonst ist alles dabei, was dargeboten wurde (gedächtnisprotokollmässig). Da ist sie, komplett und in Bestqualität, die vermisste dritte "LP". Ein wahrgewordener Traum...

Die Fütterung fand ich damals noch nicht so prickelnd, da hätte ich am ehesten drauf verzichten können, war fast froh, dass keine wertvolle LP-Spielzeit darauf "verschwendet" wurde. Ich war wohl noch zu unreif für "sowas". Möglicherweise erreicht(-e, ist ja auch schon wieder ein sattes Jahr her) mich der Song nun genau zum richtigen Zeitpunkt meiner Biografie. Seit der WasserbiszumHals-Tour liebe ich das Ding nämlich. Fällt auch sofort auf, wie homogen es sich soundmässig in die "Original"aufnahme einfügt. Da ist kein Bruch, von wegen, ab jetzt wirds bootleggerig oder so. Hut ab, Heiner. Saubere Arbeit! Ganz famos...

Hilfe von aussen wirkt oberflächlich noch immer als NDW-Anbiederei, im Gegensatz zu den achsoguten alten Zeiten aber nun als wirklich gelungene und angemessene Reaktion von Heinz auf den 84 schon längst eingeläuteten kommerziellen Totalausverkauf dieser anfangs geradezu revolutionären musikalischen Bewegung. Tja, von wegen Anbiederei - ein trefflicher Abgesang auf diese vielleicht einzig wirklich wahrhaft autonome Epoche deutscher Popp-Tonkunst, jetzt, weit im Nachhinein betrachtet. Da ich das damals noch nicht so sehen wollte/konnte gings mir am Ihrwisstschonwas vorbei. Wie schön, dass man altert und Späterkenntnisse geniessen kann...

Keine Reaktion klingt nun doch etwas unperfekt. Es zischelt an den dafür prädestinierten Stellen reichlich im Gesang. Wahrscheinlich wurden hier verschiedene Konzerte verwurstet. Dennoch eine intensive Version diese mirakulösen Stückes. Verstehe ich bis heute nicht, und dennoch fasst es mich an, an einer immer noch unbekannten Stelle, und deswegen liebe ich es besonders. Ein wenig gruselig und arg psychotisch. Zierfischcontainer... fantastisch!

An den Text Zunder kann ich mich lebhaft erinnern. Aber war der nicht ursprünglich Intro zu einem anderen Stück? Lagune womöglich? Geht das nicht alles nochn bisschen schneller freut mich, weil ich bisher keine brauchbare Liveversion davon im Archiv hatte. Da lacht das Sammlerherz. Klingt akzeptabel, gewinnt aber nicht an Inhalt oder Intensität. Kam mir schon immer eher belanglos vor, aber mögen tue ich es schon.

Manöver funktioniert als Intro zu Lamm Gottes fabelhaft. Kommt mir auch mit Verzögerung, denn ich konnte damals noch nicht wissen, dass ich nur ein Jahr später diesen Wundertieren hemmungslos und lebenslänglich verfallen werde. Frei nach Loriot -> ein Leben ohne Katzen ist denkbar, aber sinnlos... Wer das nicht versteht, ist arm dran. Das ist mein voller Ernst. Falls hier irgendwem irgendwas fehlt im Leben, wird es eine Katze sein. Oder eine zweite...

Lamm Gottes war mir von Anfang an (und ist es bis heute noch) der Tränendrüsendrücker schlechthin von Heinz. Unglaublich, was dieses Stück mit einem (wie mir) macht. Die vorliegende Version ist wunderbar, dicht dran am Radiokonzert 81, wo des Heinzes Stimme beim Lamm sachte zittert und sein darin transportiertes Anliegen hörbar unterstreicht. Aber die Soundqualität ist hier sehrviel besser. Ganz grosses Hörkino und mein am meisten vermisstes Stück beim Erscheinen der LP-Fassung. Deshalb ein Juwel in meinen Ohren.

Der letzte Dreck in dieser Rohversion ist auch ein Highlight für mich. Ein Blick in Heinzes Skizzenbuch und sogar etwas stringenter als die - besonders am Ende - nach meinem Empfinden überorchestrierte offizielle Version. In dieser intimeren Variante gefällt es mir besser, geht tiefer rein, zieht weiter runter, schön fies hodenschrumpfend. Niedermacherei par Excellence.

Romanze - absoluter Klassiker, auch hier schönstens dargeboten.

Man kann doch zu sich stehen... ist leider ziemlich zertrommelt. Ist eigentlich eines meiner Lieblingslieder vom Heinz, und hyperaktive Drummer kann ich normalerweise auch gut leiden, aber in diesem Fall passt es mal überhaupt nicht. Schade.

Siebter Juli vormittags ist ein geeigneter Rausschmeisser für die CDs. Schöne kleine Aktualisierungen in Musik und Text. Ein gelungenes Zeitdokument. Gefällt mir sehr.

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Die schlafenden Hunde und Der schwere Mut haben mich in den letzten Tagen mal wieder schwer beschäftigt. Wie alle der limitierten Deluxe Editionen wahre Freudenspender für den interessierten Fan. Mich wundert, dass hier (mich inbegriffen) so vergleichsweise wenig Freudenbekundungen hinterlegt sind. Das ganze Projekt ist (neben der fantastisch-perfekten DVD-Sammlung In alter Frische) ein unglaublicher Fan-Service. Besser gehts doch wirklich nicht, oder? Handwerklich und inhaltlich optimal - schwer vorstellbar, dass hier noch etwas zu "toppen" wäre. Und wenn ich zurückdenke an die Preisgestaltung - wow, das waren doch wohl Schnäppchen. Soooo viel waaaahnsinnig Gutes für so ein paar popelige Euronen. Mannomann, haben wir es gut als HRK-Fans.

Und dem Heiner gehört mindestens die Vorhaut vergoldet für seinen Einsatz! Alternativ (kann ja sein) die Eichel verlorbeerkranzt. Grossartige Arbeit, Meister Lürig!

Naja, und im Hinterkopf registriere ich natürlich, dass es ein guuutes Zeichen ist, dass Heiner sich so intensiv und liebevoll für die Dokumentation des kunzeschen Schaffens engagiert. Das zeugt schon von einer gewissen anhaltenden Sympathie für Heinz. Und so ziemlich jeder Fan hegt ja irgendwo in einem brachliegenden Winkel seines Herzens die unkaputtbare Hoffnung, Heinz und Heiner nochmal gemeinsam im Studio oder gar auf Bühnen zu erleben. Ach, wär das schön, wenn die Aushilfsverstärker mal wieder in Gestalt von Heiner als amtlichen Heinzversteher (und die besprochene Arbeit zeugt davon, dass er wirklich einer ist) einen kompetenten Lotsen und Mastermind durch die Untiefen des kunzeschen Genius vorgesetzt bekämen. Was mich betrifft bleibt dies mein grösster Wunsch bezüglich des Kunzekosmos.
Tod der Musikindustrie!
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