Spottlight #50 v. 28.5.15

eine Kolumne - das Spektrum reicht von Information, Hohn und Spott bis zu dem was uns sonst so einfällt. Scharfzüngig (oder auch mal provokativ)

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Kalle
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Spottlight #50 v. 28.5.15

Beitrag von Kalle »

Spottlight #50 v. 28.5.15
So sehen wir ihn am siebten Tag
Es ist ein erstaunlicher Zufall, dass die beiden, mit hoher Wahrscheinlichkeit interessantesten Neuveröffentlichungen dieses Jahres, an ein und dem selben Tag erscheinen. Und wenn man mir “Tiefenschärfe” nicht bereits vorab zugänglich gemacht hätte, wäre das ein chaotisches Wochenende gewesen.

“Tiefenschärfe” habe ich ja an anderer Stelle ausführlich gewürdigt. Dass ich das nun mit dem anderen Album auch machen möchte, mag an diesem Ort zunächst verwundern. Aber nur kurz. Es gibt nämlich einen ganz dicken Querverweis zu einem der für mich eindrucksvollsten HRK-Songs überhaupt.
Es geht um Steven Wilson´s neue Platte “Hand. Cannot. Erase.” und es geht um “Das Ultimatum”. Obwohl man davon ausgehen darf, dass Wilson “Das Ultimatum” sicher nicht kennt, hat er eine Art Übersetzung in die Zeit der neuen Medien gefertigt, und das auf Albumlänge.

Impulsgeber für das Meisterwerk über eigenverantwortliche Entfremdung und Ausgrenzung, dass sich möglicherweise mit größerer Berechtigung als je zuvor ein Album als Konzeptalbum präsentiert, war eine Doku der BBC mit Namen “Dreams Of A Life”, in der versucht wurde, das Leben und Sterben der Joyce Carol Vincent darzustellen. Eine ursprünglich lebenslustige und beliebte Enddreißigerin mit zahlreichen Freunden, Kollegen, Bekannten und Verwandten. Eine Frau aber auch, die über 2 Jahre tot in ihrer Wohnung lag, ohne vermisst zu werden. Der Gerichtsvollzieher hatte wegen Mietrückständen das Appartment aufbrechen lassen. Den Tod fand sie zwar nicht durch Suizid, sondern vermutlich durch einen Asthmaanfall (die Obduktion gestaltete sich extrem schwierig, zumal die Heizung in der Wohnung all die Zeit aufgedreht war), aber von einem “Ultimatum an die Welt” wie es bei HRK heißt, kann man hier auch sprechen.

Wilson erzählt die Geschichte nun allerdings nicht nach. Ihn beschäftig vor allem der Weg in diese selbstgewählte Isolation, die lange vor dem Tod von der Frau Besitz ergriffen hatte. Der Tod kommt bei ihm nicht vor. Vielmehr beschreibt es die Auslöschung eines Menschen, der immer ein bißchen mehr verschwindet. Und das skizziert HRK im “Ultimatum” ja durchaus auch, und verdeutlicht es mit einer einigermaßen erschütternden “Zurücknahme der Schöpfungsgeschichte” (die nicht nur als Idee einzigartig sein dürfte, sondern auch in der Ausgestaltung unfassbar anschaulich und schlüssig dargeboten wird. Eben eigentlich auch als komplettes Konzeptalbum in nur fünf Minuten).

Während man hier aufgrund der Erzählform immerhin noch ein wenig auf Distanz gehen kann (so sehen wir ihn am zweiten Tag…), wählt Wilson die Ich-Form, und bindet sie in eine musikalische Umsetzung solcher Dichte ein, dass dem Hörer fortlaufend der Atem stockt. Man fährt quasi auf einer Achterbahn, die keine Runden beschreibt, sondern auf einem toten Gleis ins Nichts führt.

Mich hat HRK´s “Ultimatum” eigentlich seit jeher beschäftigt. Ich spiele den Song auch sehr gern selbst, wobei ich irgendwann darauf verfallen bin, dem Song mit von Strophe zu Strophe aggressiveren Gitarreneffekten Dramatik einzuflößen (mein dilettantisches Gitarrenspiel tut sein Übriges), um die siebte Strophe dann betont locker und leicht vorzutragen, was denn abrupten Schluss betont..
Trotzdem fehlte mir immer die Vorgeschichte, was diesen Typen denn veranlaßt haben könnte, sich dieser Konsequenz zu stellen. Dass er sie schließlich auch zieht, kann man ahnen, denn der frühe HRK hatte nicht unbedingt ein Faible für Happy Ends.
Vermutlich gibt es diese Vorgeschichte gar nicht, da es sich ja letztlich um ein Experiment handelt. Aber so schräg und abwegig, wie mir die Erzählung als Siebzehnjährigem zunächst vorkam, ist sie sicher nicht.

Wilson liefert nicht nur eine Vorgeschichte, er führt sie uns unaufdringlich, aber auch haarsträbend nah vor Augen, sodass wir uns selbst in diesem Tunnel wiederfinden. Ein Tunnel voller Reizüberflutung. Sogenannte soziale Medien, Smartphones, die längst die Macht über uns erlangt haben, Unterschichten-TV, Scripted Reality, legale und illegale Drogen, Scheinwelten, die Spaßgesellschaft mit verordnetem Spaß. Mitten im Album kommt man plötzlich auf die Idee, DER MEINT MICH.

Es mag tatsächlich wie eine Übersetzung des HRK-Anliegens in eine andere Zeit wirken. Wie eine inspirierte Fortsetzung, ein Update.
Der unaufhaltsamen Weg in die Katastrophe, nur mit anderen Mitteln. Beide skizzieren einen zunehmenden Kontrollverlust. Bei HRK vor allem körperlich (“zum Lesen sind die Augen viel zu wund”), aber natürlich auch in aufkommender Verzweiflung, bei Wilson in Form von Realitärsverlust, Desinteresse und Selbstaufgabe.

Schließlich weist auch noch das Schlußkapitel Parallelen auf, obwohl sich hier die Wege getrennt haben. Ein letztes Aufbäumen geht der unvermeidlichen Konsequenz voraus. Bei HRK anschaulich und prägnant, bei Wilson mit der letzten Zeile eines Briefes an den Bruder, in dem es heißt “So I´ll Finished This Tomorrow”.

Wilson ist ein Perfektionist. Obwohl ein absoluter Workaholic mit zahllosen Projekten, und von Bands wie Yes, King Crimson, Jethro Tull, aber auch 80er-Größen wie Tears for Fears oder Simple Minds fast im Akkord gebuchtes Mastering-Genie für Reissues, hat er für diese Produktion mehr Zeit investiert, als sonst für fünf Alben zusammen, weil er die totale Kontrolle haben wollte. So ist zusammen mit seinem langjährig zuarbeitenden Fotokünstler Lasse Hoile auch eine schwere Buch-Edition entstanden, die die Story großartig bebildert. Wem die 80 Euro zu viel sind, der bekommt diese Bilder auch wenn er den 5.1-Mix auf der DVD-Edition visuell verfolgt.

Notizen zur Einordnung in Wilsons Gesamtwerk spare ich mir hier. Wer das vertiefen möchte, findet im Netz Material für viele Wochen. HCE ist nicht nur in vielerlei Beziehung ein Meilenstein, es haben sogar ungewöhnlich viele Menschen (jedenfalls für dieses Genre) mitbekommen. Die Tour war sehr schnell ausverkauft, sodass es im Winter eine Fortsetzung gibt (u.a. im Haus Auensee).

So, das war nun also endlich die #50. Damit schließt die Kolummne aber nicht etwa. Die Zeiträume zwischen den Veröffentlichungen werden lediglich noch etwas unberechenbarer.

Bis bald…
Schreibe (Redet), was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es lesen (hören).
Epheser 4,29

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