von MartinB » 10. Okt 2016, 22:40
Vorgestern im Bremer Schlachthof war ich nach meiner Zählung zum vierzigsten mal bei einer Live-Kunzerei zugegen. Sooo viel wie es erstmal scheint ist das nicht, beachtet man dass mein "erstes mal" 1982 in Hildesheim stattfand. Also rein statistisch gesehen 1,2 mal pro Jahr Heinz Live und in Farbe. Für hiesige Verhältnisse also eher wenig...
Diesmal war es mir ein besonderes Erlebnis, denn ich durfte den Merchandising-Stand betreuen. Vor dem Einlass den Soundcheck begutachten zu können war für mich schon was exklusives. Überhaupt das ganze Gewusel hinter den Kulissen mal mitzubekommen war schon gleichermassen spannend wie ernüchternd. Man sieht Menschen Dinge tun, über die man noch nie so wirklich nachgedacht hat und die man sich irgendwie aufregend ausgemalt hat. Doch das geht alles so fix und routiniert dass schnell klar wird: hey, das sind auch nur ganz stinknormale Jobs, die da getan werden. Es wird gearbeitet, man ist nett zueinander dabei, freut sich auf den Feierabend und der Enthusiasmus der Fans ist das Produkt, welches man anbietet. Auch Heinz als Hauptperson des Abends erscheint in diesem Licht einfach nur als "Malocher"... Er singt halt bei der Arbeit...
Mein "Arbeitsplatz" waren ein paar sinnvoll sortierte Flightcases voller CDs, T-hirts, Bücher und Kleinkram. Der Standort war zwar genau vis-a-vis zur Bühne, blöderweise war aber eine ziemlich hässliche Backsteinwand dazwischen. Zu sehen war von dort aus nichts, und der Sound war arg basslastig und vermuffelt. Nunja, während des Konzertes gab es so gut wie keine Kundschaft, so dass ich einen strategisch kompromissfähigen Standort an der Theke einnehmen konnte. Von dort hatte ich "meinen" Stand im Blick und die linke Hälfte der Bühne, vorwiegend Peter und Matthias sowie den "halben Heinz", zumindest wenn er am Piano zugange war. Immerhin war dort der Sound akzeptabler.
Zwischen Einlass und Konzertbeginn hatte ich einige schöne Begegnungen mit Fans/Kunden und durfte so manche Anekdote anhören, welche die/derjenige im Zusammenhang mit HRK zu vermelden hatte. Mehrheitlich etwa Gleichalte verkündeten meist, dass sie Heinz schon seit Ewigkeiten verehren und diesoderdas am besten fanden, daoderdort ihr intensivstes Konzert erlebten, wie identitätsstiftend und/oder meinungsbildungsfördernd Heinz auf sie eingewirkt hat... Es gibt offenbar eine eingeschworene Fanbase, mit der fachzusimpeln durchaus vergnüglich war. Aber auch weniger gut Informierten Auskunft geben zu dürfen hat Spass gemacht. Ok, die meistgehörte Frage war "Wo gehts denn hier zum Klo" - wer weiss, wieviele Massenpaniken ich durch korrekte Antwort darauf im Keim erstickt habe... Mehrmals kam aus dieser Zielgruppe die Anfrage, warum denn (gemeint waren die "Meisterwerke") schon wieder eine Best-of-CD im Angebot sei und dann das grosse Staunen, wenn sie aufgeklärt wurden, worum es bei dieser VÖ geht... War übrigens der meistverkaufteste Artikel des Abends. Nach dem Konzert wurde es dann etwas hektischer, die umsatzstärksten 20 Minuten des Abends, durch Kalles beherztes Beiseitespringen jedoch souverän abgewickelt und danach war recht plötzlich Schluss. Der für den Stand Zuständige packte in annähernd Lichtgeschwindigkeit die Cases zusammen, die Abrechnung führte zu korrektem Ergebnis, Scheine raschelten, Unterschriften wurden geleistet und schon war tatsächlich sowas wie Feierabend. Auf dem Weg zum Bahnhof hatte ich eine mittelschwere Horde Angetrunkener vor mir, die ich bei ihrem Bemühen sich effizient zu betrinken schon an der Theke beobachten konnte. Ich konnte unbehelligt überholen, während sie "Mit Leib und Seele" intonierten. Einer identifizierte mich als "Heinzmän", was mir zugegebenermassen leicht schmeichelte, zumal die anderen johlend applaudierten... ein andere blieb zurück und fütterte die Ratten. Schon eine halbe Stunde später fütterte ich zu Hause meine Katze und dachte, wow, das war jetzt mal ein ganz anderes Kunze-Erlebnis. Danke schön, Kalle!
Ein paar Worte zum Konzert: sicher dünkt es dem HRK-Spezialisten wie ein durchschnittliches Auf-Nummer-sicher-Programm, doch die Reaktion des Publikums zeigte klar, dass dies bestens ankommt. Begeisterungsfähig und -willigkeit war zu beobachten. Besonders hübsch eine mittelalte Dame an der Theke, die begeistert aufjubelte als "Leg nicht auf" anfing. Die hatte allen Ernstes Tränen des Glückes in den Augen und verkündete, dies sei ihr absolutes Lieblingslied, ihr Bier hole sie sich dann später ab, und sie stob vondannen, einen Hauch Patchouli hinterlassend. Oder einer aus der starktätowierten Säuferclique, der zu "Mit Leib und Seele" mitzusingen versuchte, die Hand ehrfürchtig an die Brust gelegt, und dessen glasiges Auge grösser ward und überlief und brach. Sooo ein harter Mann... Das sind Menschen, deren Herz für Heinz vielleicht anders schlägt als es bei uns oft eher das Hirn tut. Solcherlei Milieustudien von meinem an der Theke festgenagelten Platz aus betrachtet führen mich zu dem Schluss, dass so ein vermeintliches 08/15-Programm für eine Mehrheit absolutes Glück darstellt und von daher seine Berechtigung hat.
Interessant der neue Gitarrist, der mit seiner blusy-catchy-manchmal-auch-country-folky-Attitüde einigen Stücken ganz andere, durchweg hörenswerte Perspektiven diskret hinzufügt. Viele sehr gute Sprechtexte eingebaut, Die offene See und Jetzt erst Recht für mich immer noch richtig tief reingehend intoniert, die dramatische Pause bei Jeder bete für sich allein ein Gänsehautmoment vom feinsten, ganz groß die Piccardie... Es gibt schon sehr schöne Momente im Programm auch für "Eingeweihte". Die ganz grosse Ekstase habe ich zwar nicht wahrgenommen, und wenigstens ein richtig "gruseliges" Stück vom Schlage Lamm Gottes oder so dürfte meinetwegen dringend noch hinzugefügt werden. Das Frühwerk bleibt leider ganz aussen vor (es sei denn, man hält Lola dafür für repräsentativ). Aber echte Peinlichkeiten wie 100000 Rosen oder MundzuMundBeatmung kommen auch nicht vor.
Richtig schön war es ganz am Schluss, als Heinz offenbar spontan ganz ohne Verstärkung, nur mit seiner sichtlich schon angeschlagenen Stimme bewaffnet, zusammen(!) mit den Bremern noch Alles was sie will sang. Das habe ich so auch noch nicht erlebt. War sicher vom musikalischen Wert her eher zweifelhaft, aber es passte supergut als akustische Abschiedsumarmung zwischen Künztler und Publikum.