Nach einiger Zeit der Beschäftigung mit den Schönen Grüssen habe ich meinen Weg, diese Platte zu mögen, gefunden: die ersten drei Tracks habe ich ausgekoppelt und im Ordner "Einmalzweimal" in der Kunze-Trash-Abteilung abgelegt. Das ist die sorgsam eingehegte Sicherheitszone "Schlagerheinz für die Unterschicht" in meiner Kunze-Welt, und als solche gestehe ich ihr eine gewisse Existenzberechtigung zu, muss ja auch sein, der Künztler will leben, schaffen, Publikum ziehen, Airplay, den überheinzlichen Ambitionen seines ansonsten famosen Schlagzeuger gefällig sein... Ich aber möchte sicherstellen, von solcherlei Schrottmüll verschont zu bleiben. Dort sind Strasse/Komm/Tausendmal in gleichdoofer Gesellschaft (z.B. Ordner wie "Worst of Ich bin ich", "Meisterscheisse und Verleugnungen", "100000 Rosen & andre Peinlichkeiten" befinden sich dort in Sicherheitsverwahrung, fast jede VÖ nach so etwa 2004 hat dort ihren eigenen Isolationsfoltertrakt). Und siehe da: bereinigt von den ersten 11&nbisschen Minuten sind die Schönen Grüsse plötzlich eine richtig schöne, bunte und facettenreiche Kunze-CD, auf die mein Heinz-Detektor fröhlich hell- bis dunkelgrün blinkend anspringt. Kleiner Tipp/Wunsch: nächstes mal die Schlagerscheisse auf einer separaten "Bonus-CD" darbieten, statt sie ausgerechnet an den Anfang des Albums zu platzieren...
Schäme dich nicht deiner Tränen
Der Text ist schön kunzig, wagt sich in unschärfere und komplexere Bereiche hinein, stochert dezent im Bodensatz der vernachlässigten Gefühle, sucht und findet im Modder der Schicksalslastigkeit des Daseins dort verborgene Perlchen, verweist nebenbei auf die Macht der Interpretation allem Geschehen gegenüber und was dies optional bedeuten könnte, wenn man wollte... Die Stelle, wo es darum geht, hassenden Menschen die Kraft zu wünschen, "auch dir" zu verzeihen, ist philosophischer Salto in Echtzeit vom feinsten. Eine psychologische Grosstat ähnlichen Ausmasses ist die Absicht des Liedes, zum weinen an sich zu ermutigen, Tränen vom Makel der Peinlichkeit zu befreien. Schön böse im Hintergrund der Hinweis darauf, dass es ja Grund genug dafür gibt... Da sind schon eine Menge intellecktueller und emotionaler Andockpunkte im Angebot. Auch die Band klingt jetzt nach kreativ von der Leine gelassenem Team statt nach bezahlbaren Erfüllungsgehilfen für kalkulierte Leistungserschleichungsdelikte. Die Musik unterstreicht Heinzes Glockengesang dynamisch, dramatisch und verstärkend. Im finalen Choreinsatz geht gar, dem tristen Thema zum Trotze, ordentlich die Sonne auf, wie sich das nach einer erfolgreich durchlittenen Nacht gehört. Hier stimmt alles und ich freue mich entsprechend. Gänsehäute lügen nicht...
Schorsch genannt die Schere
Hier geht das los, was ich an der CD besonders gern mag: das ständige Gefühl, hier wird irgendwas zitiert, vornehmlich aus den Siebzigern, strategisch dosiert und platziert, ohne den "Original-Heinz" dabei zu verwässern. Das Gitarre/Keyboard-Solo zum Beispiel. Wo habe ich das schon mal so ähnlich gehört? Manfred Manns Earthband? Eagles? Temptations? Egal - es klingt vertraut, und das macht mir grossen Spass. Gibt mir das Gefühl, dass da einer musiziert, der mit mir eine gewisse musikhistorische Schnittmenge zu teilen bereit ist. Das gibt natürlich Sympathiepunkte... Auch hier der Text "echt Kunze". Ein bisschen bizarr, ein bisschen fies, ein bisschen bedrohlich... (Einschub -> vielleicht hätten sogar die ersten drei Tracks mit einem "richtigen" Kunze-Text versehen... pfff... oder so
) Die witzigen Bass-Licks, die Verzärtelung der Hi-Hat in den Strophen, wie Heinz im Refrain souverän vokale Höhen erklimmt, die Verwendung des Wortes "Wattebäuschchen"... Es gibt eine Menge zu hören bei Schorsch. Das gefällt mir sehr, und Respekt, dass Heinz nach all den Jahren immer noch richtig neue Stücke zuzubereiten versteht, die man so von ihm noch nicht gehört hat.
Luft nach oben
Habe ich bis hierhin halbmurrend toleriert, weil ich die naiv-dilletantische NDW-Stimmung in der Strophe wirklich unterhaltsam finde. Jetzt gerade ist aber Ende mit Aushalten. Schleunigst ab in die oben erwähnte Kunze-Kloake. Den infantilen Text kann ich im NDW-Verwurstungs-Kontext akzeptieren. Es gibt aber keinen Grund, mich jemals wieder diesem entsetzlichen Refrain auszusetzen (Selbstkasteiungabsicht mal ausgenommen). Im Moment ist Wolfgang Petry ein (nicht so schöner) Gruss vom Schicksal für mich: als ich heute, Wartezeit überbrückend, vorm Bremer Hauptbahnhof eine rauchte, wurde ich Ohrenzeuge der aufdringlichen Kackmusik aus einer Bude, die Lose für die Bürgerpark-Tombola feilbietet. Wolfgang Petry (meiner Meinung nach), unterlegt mit einer extra-sterilen, dafür aber omnipräsenten Pseudo-Bassdrum und, immer kurz vor und nach dem Refrain, Einsatz von Applausmaschinen... Ich bin entsetzt! Vakuum nach oben sozusagen... Ich erwähne dies, weil es zur eben erfolgten spontanen Exekution von Luft nach oben beigetragen hat. Danke, Wolle, dass du mir geholfen hast, mich von dieser Plage von Song schmerzfrei zu befreien...
Immerzu fehlt was
Ja, wow, ein "neuer Klassiker" im Kunze-Katalog. Bekommt von mir volle Punktzahl und Ewigkeitsstatus. Mit dem fetten alten Hippie hat es, ausser der Anlehnung an den unwiderstehlich Groove, m.E. nichts zu tun, ist aber auf selber Augenhöhe. Der Text ist unglaublich: ein komplettes Menschenleben konzeptionell in fünf Minuten abzubilden, und das auch noch aus einer Perspektive eines milden, aber angebrachten Fatalismus ohne dabei wirklich misantroph zu werden... Einsame Spitze! Die Musik transportiert den Inhalt grandios. Jeder Vers hat seine eigene "Mikro-Stimmung". Die eingestreuten "Gimmicks" (besonders von Matthias, sooo viele interessante atmosphärische Variationen, ganz schön geil) entfalten ihre Wirkung ungebremst. Die letzten beiden Zeilen legen nahe, dass Heinz hier das Kernstück des Albums markiert haben will. Recht hat er. Es ist in der Tat das überzeugendste und "beste" Stück der CD - in meiner Wahrnehmung.