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Wunderkinder auf der Baustelle
Im frühen Oktober 2015 waren wir Wunderkinder in Hannover unterwegs. Die Baustelle HRK Deutschland war unser Thema. Wir wollten uns die einzelnen Projekte dieser Baumaßnahme ansehen oder besser hören und die Baumaterialien auf Qualität und Güte untersuchen. Die Vorgespräche vom ersten Planen des Architektenentwurfs, der Festlegung der Reihenfolge des Baufortschritts (siehe SPOTTLIGHT #51 v. 14.07.15) bis hin zum Zusammenbau hatten uns schon sehr neugierig gemacht. Sehr gespannt waren wir auf das Ergebnis des Zusammenspiels der Arbeitsgemeinschaft-Verstärkung (ArgeVe) und wie diese aus den rohen Steinen auf dem Bauhof in Bremen zur Veredelung beigetragen hatte, welche Edelsteine dort geformt wurden. Der Architekt und Bauleiter HEINZ begrüßte uns und war, wie er meinte, glücklich, dass der Termin doch noch im alten Jahr zustande kam. Er selbst hatte das fertige Projekt, allerdings noch ohne die letzten, aber verkaufswichtigen Unterlagen und Dossiers, erst einige Tage vorher erhalten. Er wäre wohl untröstlich gewesen, wenn die „kleine Tradition“ Prelistening mit den Wunderkindern nicht mehr geklappt hätte. Nachdem wir uns bequem niedergelassen hatten, lauschten wir auf das Endergebnis einer Produktion, die verglichen mit den bisherigen Verstärkungsalben der 2000er Jahre, doch ganz anders entstanden ist. Wer sich dunkel an unseren Text zum letzten Band-Album „Stein vom Herzen“ erinnert, konnte Freude und Erleichterung über eine konsequente Umkehr herauslesen. Umkehr von einer Entwicklung, die auf zu viele Kompromisse zurückzuführen war. Das vorletzte Album „Die Gunst der Stunde“ war zu einer polierten Fassade mutiert, die es allen recht machen sollte.
„Stein vom Herzen“ wirkte dagegen wie eine Befreiung – lebendig, authentisch, kraftvoll.

Und nun geht
„Deutschland“ noch einen Schritt weiter. Das liegt zum einen an drei Songs, die zu dem Besten gehören, was HRK überhaupt in inzwischen 35 Jahren veröffentlicht hat, und zum anderen daran, dass Heinz im Studio Nord in Bremen (den Kontakt stellte Martin Huch her, der dort unlängst mit Stoppok aufgenommen hatte) erstmals seit sehr langer Zeit die gesamte Band gleichzeitig zusammenhatte.
http://www.studio-nord.net
Es gab ein im Frühsommer mit Peter Pichl produziertes Demo mit ganz nackten Aufnahmen fast aller Songs. Das wurde an die Band geschickt, damit jeder sich gründlich überlegen konnte, wie er seinen Part in den Songs interpretieren könnte. Und dann gab es in Bremen eben die Chance, die Songs quasi jammend zu entwickeln. Eine Aufnahmevariante, die vor langer Zeit mal üblich war, vom Computer aber immer mehr verdrängt wurde. Zunächst kamen Musiker mitunter einzeln ins Studio, um ihre Parts abzuliefern, dann machten Musikprogramme und E-Mail-Verkehr teilweise sogar das überflüssig, was immerhin Produktionskosten spart.
In Bremen lag also nicht nur wunderbares Rohmaterial bereit, sondern es wurde auch – quasi unter Live-Bedingungen – kollektiv daran gefeilt. Heinz muss sich gefühlt haben wie bei seinen ganz frühen Aufnahmen, nur mit dem Unterschied, dass er damals eine Band im Studio hatte, die Ideen nur begrenzt umsetzen konnte. Das Line-up Ulmer, Koops, Schmidthals, Carstens hingegen lässt keine Wünsche offen, und das Produktionsduo Carstens/Kunze liest einander nach den guten Erfahrungen der letzten Produktion die Wünsche inzwischen von den Augen ab.
Dazu kommt, dass Heinz die völlige Freiheit, die er zuletzt in seinem Side-Projekt Räuberzivil ausgelebt hat, auch hier einbringen konnte und wollte. Songs wie „Die letzten unserer Art“, „Ein fauler Trick“ oder „Der große Kakadu“ sind die perfekte Synergie aus beidem, weitere Titel haben zumindest Farbtupfer abbekommen.
Erst mal geht es aber mit Bluesrock los. Ein ungewöhnlicher Opener, und das einzige Stück, dass wir gern anders, nämlich einen Kanten staubiger produziert gehabt hätten.
„Es ist in ihm drin“ geht fett ab, kommt schnell auf den Punkt und stellt keine Fragen, hätte sich aber gern etwas verruchter gebärden dürfen. Vielleicht entsteht der Eindruck aber auch dadurch, dass der nächste Song einfach nur perfekt daherkommt.
„Zu früh für den Regen“ hat uns auf Anhieb umgehauen. Eine Kunze-Nummer aus dem edelsten Regal. Ein Glücksfall, bei dem alles passt. Den Text musste man uns erklären, aber auch, wenn man nicht weiß, worum es geht, funktioniert er ausgezeichnet. Die Nummer fließt so erhaben vorbei, dass man an dieser frühen Stelle schon ein Gefühl dafür bekommt, wie groß diese Band spielt und wie organisch die Produktion das in Szene setzt.
An dritter Stelle steht eine Ballade
„In der Alten Piccardie“, die wie ein kleiner Film abläuft. Sehr lebhaft und anschaulich widmet Heinz sich bodenständig und wohlwollend Kindheitserinnerungen, die mindestens so liebevoll vorgetragen werden wie beim Kollegen Niedecken. Die maßgeschneiderte Instrumentierung baut sich fast unmerklich auf, bis beim letzten Refrain auch noch eine freche Sologitarre mitteilt, dass der Song tatsächlich für ein positives Lebensgefühl steht. Erwähnt sei übrigens noch, dass mit der „Alten Piccardie“ nicht die Region in Nordfrankreich gemeint ist, sondern HEINZ’ Wohnort von 1960 bis 1962 Alte Piccardie in der Grafschaft Bentheim (heute 49828 Osterwald), in der er auch, vom Vater unterrichtet, zwei Jahre in die Volksschule (heute Grundschule) ging.
„Nur eine Fotographie“, das langsamste Stück, ist so sparsam instrumentiert, dass man es sich nahezu deckungsgleich auf „Räuberzivil“ hätte vorstellen können. Hier mussten wir zum ersten Mal an Peter Pichls Wahrnehmung einer depressiven Melancholie denken, die er beim Produzieren der Demos bekommen hatte. Depressiv klingt die Aufnahme im Bandgewand zwar keinesfalls, tiefe Melancholie ist aber aus dem One-Man-Demo erhalten geblieben – und nicht nur in diesem Song.
Die Single knüpft thematisch ein bisschen an
„Es wird ein gutes Leben“ an und liefert unaufdringlich den Hinweis, vor lauter Bäumen den Wald nicht zu übersehen. „Das Paradies ist hier“ ist eingängig und guter Pop, wird aber sicher kein Airplay-Hammer. Heinz hat sich zum Glück davon emanzipiert, die Erwartung eines Radiohits zu erfüllen, indem er einzelne Songs in diese Richtung zu entwickeln versucht. Auch eine sich aufdrängende zweite Single findet sich auf der Platte nicht, was vermutlich keinen Hörer stören wird. Am 13. Januar wurde ein Video zum Song in Köln bei LMPIX-Film- und Fotoproduktion produziert, um die Promotionskampagne auch visuell unterstützen zu können.
http://www.lmpix.de
„Jeder bete für sich allein“ gab es ja schon vorab. Bereits nach zwei Minuten konnten wir ahnen, dass verkniffen wörtlich genommene Textzeilen zu Missverständnissen führen würden, und so meldete dann auch z. B. das österreichische Fundiportal kath.net einen gefährlichen Angriff auf die Religionsfreiheit. Tatsächlich geht es aber nicht um das Austrocknen von Religionsgemeinschaften, sondern um den Zorn auf diejenigen, die ihre Religion weit in den roten Bereich treiben. Komposition und Lyrics wirken im Übrigen auch nicht oberlehrerhaft oder gar fanatisch, sondern mehr flehend und beschwichtigend.
Jetzt wird es countrylastig, weswegen wir eine kleine Begeisterungspause einlegen.
„Setz dich her“ ist zwar wunderbar produziert, unwiderstehlich gesungen und von Martin Huch in gewohnter Weise veredelt, aber uns fehlt der Widerhaken. Dafür hat man die Melodie sehr schnell im Ohr und bekommt sie nicht wieder raus.
„Mund-zu-Mund-Beatmung“ ist für das Album so ungefähr das, was „Küsse unterm Kleid“ für den Vorgänger war. Ein kraftstrotzender Rocker mit sehr kreativen und dominanten Drums. Alice Schwarzer würde vermutlich den Text nicht mögen, auch wenn ihr das Augenzwinkern kaum entgehen könnte. Auf jeden Fall wird die Nummer ein Live-Abräumer.
„Immer noch besser als Arbeiten“ rockt schon wieder amtlich. Nach Art der beiden Möbelpacker aus „Money For Nothing“ wird hier etwas reflektierter der Künstler höhnisch aufs Korn genommen, der sich mit marktkonformer Berechnung tatsächlich nur selbst parodiert und so gar nichts von sich selbst mitzuteilen hat. Selbstverleugnung und Kunst als Auftragsarbeit für erforschte Erwartungen des Konsumenten.
Das Titelstück
„Deutschland“ knüpft musikalisch bei „Fetter alter Hippie“ an. Nun wird so ziemlich jeder erwartet haben, dass solch ein Namensgeber keine molllastige Klavierballade werden würde, weil das zu einfach und zu berechenbar wäre. Stattdessen nun aber eine überschwänglich groovende Funk-Nummer zu hören, muss dann doch überraschen. Und weil der Song maximal undeutsch ist, werden Probleme auch weniger gewälzt, als vielmehr aufs Korn genommen. Zum Schluss wiederholt sich einige Male die großartige Zeile „Jeder gute Deutsche hat sich an dir gerieben“.
„Die Letzten unserer Art“ gehört zu unseren „großen Drei“. Das kann nur Kunze, und das ist hier so gleichermaßen beklemmend wie wundervoll arrangiert, dass es sich umgehend einbrennt. Hier wird besonders deutlich, wie ein Song, der super auf "Tiefenschärfe" gepasst hätte, mit den Möglichkeiten der Band eben diese Tiefenschärfe bekommt. Ein Meisterwerk!
„Auf meine Mutter“ ist ein Ohrwurm, der einen wunderbaren Bonustrack abgegeben hätte. Ein bisschen auf akustisch getrimmt, mit Akkordeonklängen und verzweigtem Chorgesang. Cooler und amüsanter Text, ein harmloses Liedchen.
Dazu sogleich der Gegenentwurf.
„Ich möchte anders sein“ verkörpert mit wade-punk-ähnlichen Riffs anfangs die Rebellion, um die es im Text tatsächlich geht. Der Refrain nimmt zwar dann einen Zacken raus und erklärt das Anliegen des Aufbegehrens etwas entgegenkommender. Schließlich jedoch bricht der Song scheinbar mittendrin mit einer unerwarteten Zeile ab.
Die Schlussnummer
„Ein fauler Trick“ ist eine wunderschöne HRK-only Klavierballade, ähnlich wie „Tu nur was du nicht lassen kannst“ am Ende von „Tiefenschärfe“ und mit leichten Klangzitaten aus „Let It Be“ und „Der alte Herr“. Wie sehr Heinz in den letzten Jahren wieder Gefallen daran gefunden hat, sich allein und unverwechselbar am Klavier mitzuteilen, wird nun also auch auf dem Band-Album offenkundig. Eine Ergänzung zum „einstimmig“-Programm sei ebenso empfohlen, wie den Song auf der Tour als vierte Zugabe zu spielen. Die Band dann auch mal schweigen zu lassen, ist ungewöhnlich, aber der konsequente Schlusspunkt einer Platte, die wirklich perfekt ausgewogen instrumentiert wurde. Niemand wird diesmal, wie in der Vergangenheit gelegentlich geschehen, beklagen, dass Matthias Ulmer zu dominant in den Sound eingreift. Im Gegenteil, Ulmers Klangteppiche funktionieren nach der Devise „Weniger ist mehr“, sind ausgesprochen kreativ gewebt und liefern den Songs die passende Stimmung. „Die letzten unserer Art“ ist ein famoses Beispiel dafür.
Auch Peter Koops sei gesondert erwähnt, zumal er ja neu dabei ist. Er bewegt sich sehr routiniert und sicher durch die stilistischen Anforderungen, gibt vor allem den Rockern etwas mehr Würze, weil er Schärfe ins Spiel bringt und diese auch ins Spielen bringen darf. Ebenso liefert er mit spielerischer Leichtigkeit virtuose Verzierungen ab, auf die man sich auch auf der Bühne freuen darf.
Jetzt wären wir eigentlich durch, wären da nicht noch zwei Bonustitel, die es nur über die Doppel-CD-Edition der Metro-Töchter Media Markt und Saturn zu erwerben gibt. Beide Bonus-Tracks sind diesmal absolut unverzichtbar. Für uns gehören sie auf das reguläre Album, wofür ich die Tracks 7 („Setz dich her“) und 12 („Auf meine Mutter“) zu Bonustiteln gemacht hätte. „Deutschland“ wäre dann für mich so dicht und konstant, dass an der Höchstwertung kein Weg vorbei führte. Vor allem der fantastische Siebenminüter
„Der große Kakadu“ löst bei uns die Begeisterung aus, an die wir uns bei der Entdeckungsphase des frühen HRK erinnern. Das zu beschreiben hat keinen Sinn, da verheben wir uns. Aber nicht nur wegen der Länge und des balladenförmigen Aufbaus kam uns blitzartig „Peter Paletti“ in den Sinn, obwohl ein thematischer Zusammenhang nur um achtundzwanzig Ecken herzustellen wäre.
Die andere Nummer,
„Das Jawort“, besticht mit ihrem Härtegrad und einem trotzigen Vortrag über die Neigung, noch so kleinen Minderheiten Genugtuung verschaffen zu wollen. Ein Text, an dem man sich herrlich reiben kann, vor allem, wenn man ihn zu wörtlich interpretiert.
Nachdem wir uns der totalen Reizüberflutung hingegeben hatten, stand eines sofort fest: Das neue Album wird sicherlich Anlass geben, bei den Wukis und der Fangemeinde mal wieder heiß zu diskutieren. HEINZ wirkte auf uns zum Ende hin, nach dem Durchlauf der 16 (14 + 2 Bonustitel) neuen Songs recht entspannt, er hat wie immer seinen Part voll erfüllt – mehr kann er nicht tun. Es ist ein sehr gutes Stück Hand- und Mundwerk entstanden, oder besser ein Kunze-Album in seiner unnachahmlichen, ureigensten, typischen und besten Kunst/Art. Ein Kunstwerk, welches es verdient hat, Deutschland zu erobern. Wir haben ein Album gehört, auf das HEINZ zu Recht stolz sein kann. Jetzt beginnen das Managementteam und die Plattenfirma mit der heute so wichtigen „Vermarktung“ und werden sich gewiss ebenfalls um „Deutschland“ verdient machen.
Der Beitrag darf gerne kopiert werden. Unser Dank geht an Birgit Rentz