Ein besonderes Konzert in Oldenburg, 9.3.2012

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MartinB
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Ein besonderes Konzert in Oldenburg, 9.3.2012

Beitrag von MartinB »

DIE FAKTEN

Räuberzivil Live in der Kulturetage Oldenburg am 9.3.2013
Ausverkauftes Haus
Konzertbeginn: 20:02
Konzertende: 22:50
Effektive Spielzeit nach Abzug der Pause: 150 Minuten


DIE BESONDERE SITUATION

Ohne davon im Vorfeld was zu ahnen sind wir in einem ganz besonderen, höchstwahrscheinlich einmaligen Räuberzivilkonzert gelandet, denn es fand ohne Hajo Hoffmann statt. Dieser ist durch Krankheit ausgefallen. So ziemlich jede andere Band der Welt hätte das Konzert abgeblasen, wenn ein dermassen wichtiges Mitglied nicht an Bord sein kann. In einem Akt, den man nur als unglaublich mutig bezeichnen kann, hat Heinz jedoch entschieden, kurzfristig einen Ersatzmann einzubauen. Konrad Haas heisst er. Zumindest ich habe vorher nie von ihm gehört. Googelt man seine Biografie gibt es da eine Episode in seinem Leben, etwa Anfang der Achtziger, in der er mit Peter Pichel zusammen bei einer längst vergessenen Kapelle namens Steinwolke zusammen spielte. Von daher ist leicht zu erraten, wer den Kontakt zu Heinz hergestellt hat... Der Konrad spielt zwar leider weder Mandoline noch Geige, statt dessen ist die Querflöte sein Hauptinstrument. Das schien jedoch kein Hindernisgrund zu sein. Laut Heinz hat sich der Konrad dann innerhalb "weniger Tage" mit dem Räuberzivilprogramm vertraut gemacht, sich hauptsächlich Flöteneinsätze dazu ausgearbeitet bzw. wo das nicht angebracht schien andere Instrumente gewählt und eingebaut. Sich mal eben in ein Zweieinhalbstundenprogramm einer Band mit gutem Ruf zu integrieren ist eine grossartige Leistung. Sich damit vor ein ausverkauftes Haus mit vorab über die Änderung nicht informiertem Publikum zu wagen zeugt von wahrem Mut. Das ganze Unterfangen hatte einen durchaus waghalsigen Aspekt... So wurden wir Zeuge eines höchst ungewöhnlichen Konzertes, über das detailliert zu berichten hier angezeigt ist, denn wahrscheinlich hat hier sonst keiner etwas davon mitbekommen. Bekannte Gesichter aus dem Wunderkinder-Universum fanden wir jedenfalls nicht. Dies ist eine Geschichte, die der Nachwelt überliefert werden muss. Wohlan, es geschehe hiermit...


DAS KONZERT


01 INSTRUMENTAL INTRO*
Beim Erklimmen der Bühne seitens der Herren Stute, Pichel und Haas geht ein Raunen durch den Saal, denn alle merken nun, dass der Hajo fehlt - öööhm, auch ich übrigens... Da jedoch ein sehr diszipliniertes Publikum anwesend ist gibt es keinerlei Unmutsbezeugungen. Die drei Herren blicken bemüht freundlich in die Runde, warten kurz auf dass der Schreck sich lege und machen sich dann beherzt über ihre Instrumente her. Es beginnt besinnlich und immerhin wird sofort klar, dass der Fremde an der Querflöte weiss, was er da tut. Im Laufe des Stückes wirds etwas temperamentvoller. Man erkennt trotz noch sehr zurückhaltendem Schalldruckpegel, dass man es mit echten Virtuosen zu tun hat. Der erste Eindruck von Herrn Pichel hält sich über das ganze Konzert: er wirkt souverän, betont aufmerksam, fröhlich, groovt sanft mit, baut der Kapelle ein feines akustisches Fundament, bietet seinen Kollegen stets aufmunternden Augenkontakt an. Absolut vorbildliches Verhalten aus musizierpsychologischer Sicht! Es ist eine Freude, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Wolfgang hingegen schaut, besonders während der ersten Hälfte des Sets, eher skeptisch, gelegentlich sogar leicht grummelig aus der Wäsche, als wäre ihm bei der Sache nicht ganz wohl. Konrads Verfassung lässt sich erstmal schwer einschätzen, er ist voll mit seiner Flöte beschäftigt, an der er sich festzuhalten scheint und kuckt nicht gross in der Gegend herum dabei. Nach dem wiederum besinnlichen Schluss herrscht einige Sekunden unpeinliches Totalschweigen im Raum. Ja, das war ein sehr schöner Auftakt, dessen Nachhall auskostbar ist... Als Heinz die Bühne entert wird er mit einem vergleichsweise verhaltenem Applaus begrüsst. Er stellt dann zunächst in fröhlich gemeinten Reimen seine Mitstreiter vor und erklärt dann kurz - mit deutlich belegter Stimme - die Lage: Hajo ist schwer erkrankt, Konrad hat sich das Programm in wenigen Tagen draufgeschafft, bitte ein Vorabapplaus für diesen mutigen Mann...

02 DER KARTENLEGER
Ein schwieriger Moment für alle Beteiligten, nach solcherlei Botschaft zum wesentlichen überzugehen. Es dauert ein Weilchen, bis der Kartenleger richtig Fahrt aufnimmt. Zudem ist der Sound anfangs noch arg schwammig, merkwürdig leise, etwas muffelig und dumpf. Man spürt eine gewisse Angestrengtheit mitschwingen. Immerhin funktioniert Konrads Querflöte überraschend gut als Geigenersatz. Offenbar flötet er nahezu 1zu1 nach, was auf Rein&Raus von Hajo vorgegeben ist. Ich bin erstaunt, dass solches möglich ist. Nach kurzer Eingewöhnungszeit gefällt mir das plötzlich sehr und ich stelle fest, dass ich Grund zur Freude habe: das wird ein Konzert mit Unvorhersehbarkeiten ohne Ende! Ich darf Zeuge sein, wie Heinz&Co. jede Menge wirklich schwierige Aufgaben zu lösen gedenken und bin sehr gespannt darauf. Zudem die Gewissheit, einem Kuriosum beizuwohnen, welches einmalig in der Geschichte von Räuberzivil werden dürfte. Ich wähne mich zur rechten Zeit am rechten Ort und geniesse den Abend fortan mit gesteigerter Aufmerksamkeit. Fühlt sich super an... Während dessen schraubt der Mann am Mixer mit messbaren Fortschritten am Sound, der langsam transparenter, wenn auch noch nicht so kräftig wie ich ihn mir wünsche wird. Aber die Richtung stimmt schon mal.

An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zu Wolfgangs Percussionkonzept. Anfangs steht in seinem Bühnenbereich ein etwas unübersichtlich wirkender Haufen Trommelzeugs. Am Ende hockt Wolfgang nur noch auf seiner nackten Cajon, denn es erscheint immer wieder mal ein Mensch, der ihm seinen Kram nach und nach wegnimmt. Im Fall des Kartenlegers spielt Wolfgang die Cajon mit einem Fusspedal und mit den Händen eine Snaredrum, die mit einer dicken Frotteeschicht abgedämpft ist. Kaum ist das Stück aus kommt der erwähnte Trommelräuber und entfernt die Snare. So leert sich nach und nach die Bühne - was nicht mehr gebraucht wird, kommt weg. Interessant, habe ich so auch noch nicht gesehen. Im weiteren Verlauf stellt sich heraus, dass die Cajonfussmaschine einen ordentlichen Bassdrumsound generiert, wenn der Mixermann erstmal den richtigen Regler gefunden hat. Beim Kartenleger ist die Percussion leider noch eher ein optisches denn akustisches Beiwerk.

03 TEXT: ICH MÖCHTE DABEI SEIN, VATER*
Heinz verwendet viele Sprechtexte im Programm, in denen er mehrere Personen darstellt. Dies scheint ihm heftig Spass zu machen (und dem Publikum auch). Der erste Text dieser Art handelt grob umrissen von einem grotesken Schweinsgalopp durch die Weltgeschichte, beobachtet von der Andromeda aus und durch die Augen von Vater und Sohn Andromedianer. Mir ist der Text an dieser Stelle zu lang und zu anstrengend, denn er bremst den gerade aufgekommenen Schwung des Kartenlegers sofort wieder aus, und zwar restlos. Das finde ich dramaturgisch arg ungeschickt.

04 MILDERNDE UMSTÄNDE
Schon bei den ersten Takten wird klar, wie hoch Räuberzivil heute Abend pokert und dass es auch was zu verlieren gibt, wenn man solcherlei Risiken eingeht. Zum Einsatz kommt das einzige Musikinstrument, welches ich (aus biografischen Gründen) inbrünstig verabscheue - eine Blockflöte! Unglücklicherweise scheint auch Konrad nicht so richtig verliebt in das Ding zu sein - es kommt damit zu fürchterlichen akustischen Entgleisungen, die den Genuss auf resthaarsträubende Weise trüben. Interessant zu beobachten, wie die Band darauf reagiert - Heinz kann sich mühsam unterdrücktes Grinsen an den schlimmsten Stellen nicht ganz verkneifen, was auf Kosten der Sangesleistung geht. Wolfgang hingegen macht ein gepresstes Gesicht und findet das Geflöte sicher weniger witzig. Nur Peter schwelgt in seinem Bass und sendet mutmachende telepathische Impulse an jeden aus, der sowas gerade braucht. Irgendwie sind alle froh, als das Stück vorbei ist. Auch der arme Konrad, der erleichtert zum Keyboard schleicht und von Heinz mit merkwürdigen Gesten zurück zu seiner Flöte gescheucht werden muss. Wenn schon peinlich, dann auch richtig...

05 TEXT: FENSTER ZU
Dieser Text aus der Gattung ornithologische Groteske wird untermalt von Konrad in der Rolle des Vogels an der Holzflöte und Wolfgang als Geräuschemacher. Er bearbeitet dabei recht kreativ eine Udu beträchtlichen Ausmasses. Das ganze klingt reichlich versponnen. Mir gefällt sowas. Heinz gebärdet sich autoritär, was nicht nur lustig klingt, sondern auch aussieht. Infolgedessen wird zum ersten mal an diesem denkwürdigen Abend gelacht, was eine gewisse Entspannung nach sich zieht.

06 NIMM ES NICHT PERSÖNLICH
Die aufkeimende Fröhlichkeit wird geschickt genutzt, um mit diesem Stück einer gewissen Heiterkeit weiteren Vorschub zu leisten. Konrad wechselt zu den Tasten und steuert sowas wie ein Western-Piano bei - schön vielseitig talentiert ist dieser Mann. Inzwischen hört man auch die Percussion etwas deutlicher. Die Band vermittelt glaubhaft, Spass an der Nummer zu haben. An dieser Stelle wirkt alles wie ein ganz normales Konzert einer routinierten Kapelle... Nur Pechvögelchen Konrad bekommt hinterher einen leichten Rüffel auf offener Bühne, weil er Heinz das Keyboard falsch eingestellt hinterlassen hat... Heinz behauptet noch, dass man mit zunehmendem Alter Country immer besser findet, was ich aus eigener Erfahrung überhaupt nicht bestätigen kann. Ich hoffe sogar sehr, dass dieser Effekt bei mir ausbleibt.

07 TEXT: PUTZFRAU JESUS
Der Gewinn am Livegenuss dieses Textes gegenüber der Studioversion besteht in der Betrachtung von Heinzes Mimik während er die Rollen wechselt. Sein Gesicht, wenn er als Jesus alias Swedlana spricht ist ebenso sehenswert wie die schön bescheuert dargestellte Frau Meier-Wohlfart.

08 FREI ZU SEIN
Nach so viel Rein&Raus ist es wirklich Zeit, mal die riesige Kiste mit dem kunzeschen Gesamtwerk aufzumachen. Frei zu sein ist mir auf Protest eigentlich nur durch nach meinem Empfinden reichlich überzuckertes Pathos aufgefallen. In dieser schlanken Version gefällt mir das Stück deutlich besser. Der Text kommt prima zur Geltung und erhält endlich mal die ihm zustehende Gewichtung, denn er ist sehr schön und gut. Durch die Querflöte verströmt das Lied ein leicht krautiges Flair. Würde inhaltlich und formell z.B. auf einer alten Platte von Cochise überhaupt nicht auffallen.

09 TEXT: TJA
Einer meiner Lieblingstexte überhaupt, nicht nur von Rein&Raus, nicht nur von Heinz, sondern überhaupt. Ich finde Tja so dicht, wahr und wichtig dass jeder darüber nachdenken sollte. Von daher freue ich mich besonders, ihn in der Kulturetage serviert zu bekommen. Obwohl er in der hier gebotenen Form als Sprechtext nicht korrekt deklariert ist. Es handelt sich vielmehr um etwas wie eine Klangskulptur. Wolfgang bearbeitet meisterlich eine angenehm gestimmte Conga. Konrad mimt den kleinen Shaker. Und was der Peter mit dem Bass anstellt ist schlicht unglaublich. Heinz rezitiert rhythmisch - wie anspruchsvoll solches ist zeigt sich, als er an einer Stelle ein paar Silben wieder aufholen muss, um in den Beat des Textes zurück zu kommen. Der Höhepunkt dann, als der Text vorbei ist und Heinz sich am Piano vergreift: er spielt merkwürdigste Einwürfe gegen den Strich der ohnehin schon höchst merkwürdigen Musik. Einmal erwarte ich, dass alles in den Anruf von 1984 übergeht. Doch es bleibt beim akustischen Äquivalent einer nicht sehr milde verlaufenden Psychose... Aufs angenehmste irritiert klappe ich danach den Mund mit Mühe wieder zu.

10 DER SCHWERE MUT
Immer wieder lecker, aber diesmal klingt mir der schwere Mut etwas zu schwermütig. Kommt seltsam verlangsamt und schwächelnd in meinen Lauschern an. Irgendwas stimmt mit dem Timing nicht, oder soll das so schleppen? Heinz meidet die richtig hoch und kräftig gesungenen Passagen, brummelt sich so wischiwaschi durch den Text. Am interessantesten daran ist noch das schöne Flötensolo. Aber der übliche Effekt, wenn mir der Schwermut auf Konzerten begegnet, bleibt aus: kein Freudenkloss im Hals, keine Wiederbelebung jugendlichen Elans, nichtmal ehrliche Freude darüber, dass das Stück so unkaputtbar allen Zeiten trotzt. Hier wirkt es lahmend, verbraucht und/oder freudlos. Auf mich jedenfalls, denn den andren hats gefallen: der bis hierher stärkste Applaus ist zu vernehmen.

11 DAS PONY
Auch beim Pony fällt mir auf, dass Heinz sehr verhalten, leise, sparsam singt. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahne: der Junge braucht Reserven... Interessante Instrumente kommen zum Einsatz: Wolfgang klöppelt eine ziemlich grosse Schlitztrommel, womit er mich schwer beeindruckt. Konrad bläst etwas kleines flötenartiges aus Metall, keine Ahnung, wie das Ding genau heisst, aber es verbreitet irgendwie irische Atmosphäre und klingt recht lebendig. Das Pony fand ich erst doof, dann gut, dann nervend, weil es mich tagelang als Ohrwurm begleitete. Diesmal nehme ich es gelassen hin und erfreue mich an den originellen Instrumenten samt ihren gut gelaunten Spielern. Inzwischen scheinen sich alle Räuberzivilisten wohl miteinander zu fühlen. Die Musiker tauschen fröhliches Grinsen untereinander aus. Auch das ist hübsch anzuschauen.

12 TEXT: NEIN, ICH WOLLTE NICHTS VON DIR*
Kleines szenisches Nicht-Telefonat, bewusst belanglos gehalten und eigentlich frei von Sinn und Inhalt. Bemerkenswert jedoch die eingebaute Pinkelpause: "Du, bleib mal dran, ich muss mal...". Dann tut Heinz eine gefühlte Minute lang einfach gar nichts, dies aber so gekonnt, dass es urkomisch wirkt. Was die mimische Untermalung seiner Texte betrifft macht Heinz gerade eine interessante Entwicklung durch. Er hat dann ein Gesicht in dem es... arbeitet... "So, da bin ich wieder...". Tolle Nummer.

13 DAS DASEIN UND ICH
Was mich betrifft der bisherige ästhetische Höhepunkt des Abends. Richtig schön gesungen, der feine E-Kontrabass auf (mich) angenehmst berührende Weise gezupft, die Flöte anfangs fast unhörbar leise hingehaucht (und das war diesmal gewollt und gekonnt, nicht etwa ein Problem der Technik), die Gitarren sich dezent virtuos umschmeichelnd... und als im letzten Drittel der Konrad ans Keyboard wechselt und einen wunderschön sphärischen Synthieteppich in den Song schmuggelt umkribbelt mich ein sanftes rosa Gänsehäutchen...

14 MEINE EIGENEN WEGE
Funktioniert auch mit Flötchen als Soloinstrument, bietet ansonsten nichts grossartig neues. Gefallen tut mir der mehrstimmige Gesang und Konrads Mikrofonakrobatik. Stellenweise hat er gut zu tun, die Flöte rechtzeitig in den Mund Rein und wieder Raus zu bekommen. Als Rausschmeisser für die Pause gut geeignet.


ZWANZIG MINUTEN PAUSE
...ausser für Wolfgang, der am gut umlagerten Merch-Stand Dienst schieben musste und von dort aus quasi direkt wieder auf die Bühne hupfte... Hard working Man!

15 TEXT: VORSICHT VOR UNSEREINER*
Reichlich philosophischer Text über Wissenschaft, Glaube und Dichtung bei dem man meinen kann, das meint der Heinz nun wirklich mal ernst und persönlich. Nach meinem Empfinden ein seltsamer Einstieg in die zweite Hälfte, für sich gesehen jedoch ein brauchbares Beispiel für angewandten Skeptizismus.

16 SIE HASSEN DICH
In der Pause muss wohl jemand mit dem Mixermann gesprochen haben, denn der Sound kommt nun druckvoller daher, besonders was Bass und Schlagzeug betrifft. Ja, Schlagzeug, denn wenn man die Pedalarbeit auf der Cajon richtig hört und sogar ein bisschen spürt klingt so ein Katzenklo ziemlich schlagzeugähnlich. Für die Bluesabteilung hat der Konrad ein ausgewachsenes Sachsophon mitgebracht, welches den Wegfall von Hajos E-Mandoline tatsächlich akzeptabel kompensiert. Sie hassen dich kommt kräftig zur Sache. Insgesamt ist ein atmosphärischer Wechsel bemerkbar - irgendwer muss Heinz gesteckt haben, dass bis hierher alles bestens geklappt hat, was sich auf seine Sangesfreude positiv auszuwirken scheint. Er gibt jedenfalls mehr Gas als in der ersten Hälfte, alles wirkt relaxter und Wolfgang holt schwungvoller aus beim trommeln. Kann aber auch sein, dass dies konzeptionell so gewollt ist und Räuberzivil erstmal kleinkünstlerisch-zurückhaltender agiert, ehe dann auch mal die Sau rausgelassen wird. Wie auch immer, es ist jetzt mehr Leben in der Bude, und das macht Sinn und Spass.

17 TEXT: TOT
Und schon ist es wieder vorbei mit der Lebendigkeit. Düsterer Text, ein bisschen minimalistischer Gruselstreichbass... Bis hierher kann man Räuberzivil keine Eintönigkeit vorwerfen, aber dieses Wort passt jetzt bässtens zu dem, was Peter da aus seinem Standbass schabt: eben ein einziger, über zwei Minuten gehaltener Ton, der zudem noch das nächste Stück einleitet...

18 MACH ES WIE ICH
...beginnt damit, dass man einen Bassisten sehr hektisch den Bogen von sich tun sieht. Schöner Stunt... In der Pause haben wir uns Gedanken speziell um dieses Stück gemacht - wie soll das funzkionieren ohne die überragende, die Musik stark dominierende Geige? Es mutet dem nicht Dabeigewesenen vielleicht unglaubwürdig an, aber die Rettung besteht aus der mickrig kleinen irischen Flöte, die einfach kackfrech so tut, als gehöre ihr die Nummer ganz selbstverständlich. Trotz des ganz anderen Klangbildes bleibt Mach es wie ich vollständig erhalten, wahrlich eine gelungene Rettungsaktion. John würde es gefallen. Yoko auch, besonders der markerschütternde Schlusspfiff aus Konrads Wunderpfeife.

19 TEXT: WASCHBÄR
Gute Gelegenheit mal zu kucken, ob dieser Text tatsächlich so unziemlich zu bewerten ist, wie hier gern mal angemahnt wird, von wegen Verhöhnung von Vergewaltigungsopfern und Gürtelliniensprengerei und so. Nimmt man die Publikumsreaktion als Messlatte ist keinerlei Empörung oder Schamesröte zu bemerken, eher ist aufmerksame Heiterkeit zu Protokoll zu geben. So schlimm wirds also nicht sein mit der niedlichen Geschichte vom Waschbären. Und komme nun bitte keiner mit dem Argument, jaja, der Pöbel lacht halt reflexhaft über obszönes, vulgäres und sexistisches, denn es ist durchaus feingeistiges Publikum zugegen, welchem eine gewisse menschliche Reife anzusehen ist. Gebildete und aufmerksame Menschen, die sich auch an den Kurzauftritten vom Waschbär ("Du willst es doch auch") oder dem Neandertaler ("Ja, toll") in Kunzes Gesichtslandschaft angemessen zu erfreuen wissen. Bei aller Bescheidenheit... öööhm...

20 BLUES FÜR DIE BESTE
Einer echter Räuberzivilklassiker, seit Anbeginn der Zeit im Programm und besonders beliebt dank Hajos legendärer WahWah-Mandoline. Von daher auch hier im Vorfeld Sorge, wie das ohne ihn denn klappen soll. Konrad zeigt, wie es geht: nimmt die grosse Tröte und saxophont Hajos Mandolinenläufe hinein in den Song. Ok, so originell wie mit der modifizierten Mandoline ist das Ergebnis nicht - aber der Song bleibt dem Programm erhalten und behält seinen Groove. Womit die gestellte Aufgabe erfüllt ist. Durch die Einmaligkeit des Vorgangs ist der Blues für die Beste diesmal halt auf einer anderen Ebene originell. Das ist doch auch was...

21 TEXT: EON REKLAME*
Hübsche kleine Überleitung zum nächsten Song, was aber erst auffällt, als der Künztler dies am Ende behauptet.

22 EIN UND AUS
Konrad steuert mal wieder einen hübschen neuen Sound zum Geschehen bei. Diesmal spielt er die Schweineorgel, was der Mann am Mixer leider erst im letzten Drittel des Songs so richtig mitbekommt. Zudem gibt es interessante Verrenkungen von Wolfgang zu sehen. Der hatte sein Mikrofon noch auf Gitarrenhöhe und fand sich am Ende des Songs in der Verlegenheit, mit dem Gesangsorgan dorthin zu kommen, möglichst ohne sein Congagetrommel zu unterbrechen. Es ist ihm gelungen, aber es sah anstrengend aus. Hard working Man!!

23 TEXT: DIE BALLADE VOM ABSTERBENDEN AST
"Mein Führer, die Russen umzingeln Berlin - Ich brauch keine Urne, aber holt mal Benzin"... Kunze mimt gleichzeitig das besorgte Volk und den ignoranten Hitler. Ganz grosses Hör- und Gesichtskino. Nebenbei die komplette Geschichte des zweiten Weltkriegs aus deutscher Sicht in zwei Minuten komprimiert. Heinz hat ja hier und da schon über Hitler gesungen und gesprochen, aber dass er ihn sprachlich (sogar recht geschickt) imitiert ist eine weitere höchst unterhaltsame Neuerung, der ich in diesem schönen Konzert begegne.

24 LIED FÜR BERLIN
Ein schöner Moment, als Wolfgang auf halber Strecke des Liedes mit seinem Kistenschlagzeug einsetzt. Die "Bassdrum"-Figur groovt ganz wunderbar. Kurz darauf greift Konrad wieder in seinen scheinbar unerschöpfliches Instrumentenfundus und fördert eine Harmonika zutage, welche er fast passenderweise nach der Zeile "Regen spielt die Mundharmonika" sanft, seeehr sanft sogar, zu blasen beginnt. Fast passend, weil es sich um eine Handharmonika handelt... Mein Respekt vor diesem Mann steigt stetig. Egal, welches Instrument er bedient, es erfüllt immer voll seinen Zweck, Hajos Nichtgegenwart akustisch diskret zu vertuschen. Er spielt zweckdienlich und diszipliniert, was möglicherweise grössere Kunst ist als ständig virtuos zu solieren.

25 TEXT: DAS WÄRE GLÜCK*
"Wenn du an einem Lebewesen wieder gutmachen könntest, was du all den anderen angetan hast - das wäre Glück" So etwa funktioniert dieser wunderschön poetische Text, der besonders an dieser Stelle des Konzerts so richtig angenehm ans Herz geht. Zum wiederholten mal ist ein Text so geschickt zwischen Stücke platziert, dass kein Übergang wahrnehmbar ist. Es gibt gar keine Möglichkeit für Zwischenapplaus, als wäre die letzte Silbe des Textes schon der erste Akkord des folgenden Liedes, was mir äusserst geschickt gemacht dünkt. Ein gut durchdachtes Programm, was die anfängliche Frage nach der seltsamen Dramaturgie inzwischen befriedigend beantwortet. Räuberzivil 2013 ist ein intelligent verschachteltes Programm, an dem einfach alles stimmt.

26 RÜCKENWIND
Hat der Heinz entgegen dem Gesamtkonzept von Rein&Raus also doch ein Liebeslied ins Programm aufgenommen. Aber es beschwert sich keiner, und wer des Heinzes Liebeslieder mag wird diesem besondere Qualität beimessen. Schön quergeflötet, das sollte die Liebenden im Saal nachhaltig beglücken.

27 TEXT: SITZ
Kommt ein Mann auf die Bühne und stellt Heinz einen Wacheldackel aufs Keyboard... Mit diesem beginnt Heinz nun sein Gespräch als Hundeflüsterer. Dabei macht er dermassen groteske Gesichter, dass er die Nummer komplett an Helge Schneider weiterreichen könnte. Sicher ist Sitz ein Ausbund an Albernheit - aber als solcher sehr gekonnt in Szene gesetzt. Heinz Rudolf Kunze goes Comedy... auch so ein Ding aus der Rubrik "Kaum zu glauben".

28 DEIN IST MEIN GANZES HERZ
Ach ja, das unvermeidliche ganze Herz... Hier aber insofern interessant, als das Räuberzivil-Arrangement davon (an sich schon eine schöne Abwechslung) nochmal spezielles Aroma durch die Einsprengsel der Querflöte bekommt. Immerhin kann ich jetzt behaupten, es mal wieder völlig anders als gewohnt serviert bekommen zu haben. Fast irritierend wirkt, dass Heinz offenbar grossen Spass daran hat - oder sind seine Schauspielkünste nun schon so weit gediehen, dass... Och nö, blöder Gedanke. Der Applaus danach ist riesig, und so lange die Leute klatschen und jubeln werden wir das Herz weiter ertragen, tapfer wie wir nunmal sind.

29 DAS IST KUNST*
Noch ein kleiner grotesker Dialog, diesmal um das Wesen der Kunst. Überengagierter trifft Dumpfbacke, durchaus lustig dahingeschauspielert. Dient dann letztlich der Überleitung zu noch so einem Stück, mit dem ich eigentlich nicht so recht einverstanden bin.

30 IM NÄCHSTEN LEBEN WERD ICH SPIELERFRAU
Eigentlich finde ich die Spielerfrau furchtbar. Live und in Farbe angeschaut schwingt doch sowas wie ...öööhm... naiver Charme vielleicht mit, wahrscheinlich ausgelöst durch den reichlich verspielten Einsatz von Konrads kleiner Irenflöte. Ehe ich damit fertig bin, mir das Ding schönzudenken ist es aber auch schon wieder vorbei, womit ich sofort einverstanden bin. Ebenso mit dem tobenden Applaus, den Konrad nach öffentlicher Würdigung seitens Heinz vom Publikum überreicht bekommt.

31 ALLER HERREN LÄNDER
Beginnt eigentlich ganz harmlos, bis nach etwa fünf Minuten ein Gitarrensturm der besonderen Art einsetzt. In den letzten Jahren wurde das Stück ja immer weiter ausgebaut mit allerlei ekstatischen Eskapaden, und diese Entwicklung ist schon wieder an einem vorläufigen Höhepunkt angelangt. Es ist mir als Nichtgitarristen völlig unverständlich, wie das möglich ist, aber ich höre plötzlich etwas, das wie ein Schlagzeugduett - und zwar ein heftig geiles! - klingt. Optik und Sound bekomme ich hirnintern nicht in eine gemeinsame Datei. Ich verstehe nicht, was ich höre und sehe. Es ist einfach nur geilgeilgeil und nochmal geeeiiil, was da vorgeführt wird. Heinz gebärdet sich wie ein Irrer, Wolfgang malträtiert die Gitarre mit purer Gewalt, Peters Finger jagen das Griffbrett rauf und runter und Konrad flötet wahnwitzige Stakkati. Zwischendurch kleine Deja Vus: klingt mal kurz nach Won´t get fooled again, oder doch nach dem Finale von Child in Time und was war das eben, was von Hendrix, Young (Neil oder Agnus), oder bilde ich mir das alles nur ein? Das Finale von Aller Herren Länder ist einfach nur heller Wahnsinn und findet kein Ende. Immer wenn man denkt, jetzt wars das wohl wird noch einer und noch einer und noch einer draufgesetzt... Absolut irre! Grandios - man reiche mir Superlative ohne Ende, diesen wohltemperierten Radau angemessen zu beschreiben. Jaaaaa, Räuberzivil ist grooooss! Wow! - Ende des offiziellen Konzertes, ein fassungslos jubelndes Publikum hinterlassend.

32 BESTANDSAUFNAHME
Was für eine schöne Wahl für die erste Zugabe. Schon bei den ersten Tönen stellen sich mir sanft die Haare an den Unterarmen auf, eigentlich schon bei der Ansage "Das, womit alles anfing...". Ich fühle mich tatsächlich partiell zurückgebeamt nach 1981 während ich ergriffen und zutiefst einverstanden lausche. Das glatzenwunde Alter - ich sehe es vor mir sitzen und kann es auf mir selber selber tasten... Wir wählen selbstverständlich gar nichts mehr... Und dann das Mundharmonikasolo, ganz wie ich es kenne von ganzganz früher. Sehr schön, auch wenn Heinz hinterher sichtbar nach Atem ringt... jetzt, wo 56 hinter seinem Komma steht... Bestandsaufnahme vereint aufs trefflichste Vergangenheit und Gegenwart in meinem gerade mal wieder vollverheinzten Herz&Hirn. Wie es wohl sein wird, wenn 75 hinterm Komma...

33 RÄUBERZIVIL
Die zweite Zugabe beginnt fast schon unheimlich: Konrad flötet dermassen genial in den Song, dass man glaubt, Hajo zu hören, incl. WahWah-Effekt. Wahrscheinlich ein Psychotrick meines konditionierten Hirns, dass mir solches vorgegaukelt wird. Es ist jedenfalls extrem verblüffend. Räuberzivil geht dann ab wie Luzie, besonders der Peter am Bass verbreitet bässte Laune um sich her. Noch ein toller gut funktionierender Effekt: ich mag es ja eigentlich gar nicht, wenn das Publikum durch kollektives rhythmisches Mitklatschen kundtut, dass es den Song mag und bis Vier zählen kann. Ganz anders jedoch, wenn dies als Reaktion auf die gesungene Zeile "Hat es nicht traumhaft schön geklungen - das entscheidet iiihiiihr..." plötzlich einsetzt, und zwar mit Macht. Heftige Gänsehautattacke! Geil!

34 FINDEN SIE MABEL
Auch diese gefühlt ein paarhundertmal gehörte Zugabenpflichtübung ist diesmal angenehm anders durch Konrads Querflöte. Er tiriliert aufs angenehmste dazwischen und lässt zum Schluss nochmal klar erkennen, wer der Held dieses Abends ist. Das Stück wird durchgerock´nrollt wie sich das gehört und endet mit doppeltem Überschlag. Es finden dann keine ernsthaften Zugabenforderungen mehr statt. Die Band ist verdient erschöpft und das Publikum bis aufs Mark zufriedengestellt.


ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN

Hajo Hoffmann sei ganz herzlich gute Besserung und baldige vollständige Genesung gewünscht.

Heinz, Peter, Wolfgang und Konrad sei ganz herzlich gedankt für dieses abenteuerliche Konzert. Ihr traut Euch wirklich was... Passt zum Namen Räuberzivil, so eine Vorgehensweise. Ihr habt gewagt, Ihr habt gewonnen. Herzlichen Glückwunsch, Ihr Helden.

Besonderer Dank an meinen lieben Freund Kai, dessen besonderem Engagement ich es zu verdanken habe, dabeigewesen sein zu dürfen.
Tod der Musikindustrie!

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