heinz int. in der pds zentrale !!!
Verfasst: 24 Mai 2007, 07:24
Quelle:-http://sozialisten.de/politik/publikati ... &bs=1&n=19
In Zorn, wo es sich wirklich lohnt
Ratlose Hoffnung. Im Gespräch mit Rockpoet Heinz Rudolf Kunze
Ganz Deutschland redet anscheinend momentan am liebsten über sich selbst. Ihr Beitrag zur Nabelschau?
Reden wir am liebsten über uns selbst? Ich finde, dass Deutschland nicht nur auf Grund seiner Mittellage in Europa, sondern auch auf Grund seiner geschichtlichen Nervosität eher ein Land ist, das sich sehr stark für die restliche Welt interessiert. In vielen anderen Länden habe ich das Gefühl, dass es sich dort viel stärker um das eigene Land dreht und der Rest der Welt unter "ferner liefen" rangiert. Das krasseste Beispiel sind sicherlich die USA, wo man etwa in Houston am Wochenende eine fast armdicke Wochenzeitung kaufen kann, in der die Weltpolitik aber nur die letzten vier Seiten ausmacht.
Ich gebe allerdings zu, dass die Deutschen durchaus ein besonderes Talent zum Grübeln und zum Pessimismus haben. Die Deutschen sind beispielsweise viel melancholischer als die Portugiesen, denen das ja mit Blick auf ihre Musik immer nachgesagt wird.
Natürlich hat dieses ausgeprägte Grübeln auch Stärken. Die deutsche Philosophie zum Beispiel gehört zu den wichtigsten Philosophien der Welt - sie ist vielleicht die wichtigste überhaupt - und hat etwa in Gestalt von Marx oder Kant die ganze Welt geprägt. Das gründliche deutsche Denken bringt nicht nur Ungeheuer hervor, sondern zeitigt auch große Leistungen. Offensichtlich ist die deutsche Sprache eine, in der es sich besonders gut analytisch denken lässt. Hierin ist sie vielleicht dem Lateinischen nicht unverwandt.
Man muss das allerdings janusköpfig sehen: Das deutsche Grübeln und Nachdenken hat gute, aber eben auch schlechte Seiten.
Die Deutschen könnten zum Beispiel von manchen anderen Ländern lernen. Etwa von Amerika, dessen pioniermäßige Hemdsärmeligkeit sich beileibe nicht bloß in George W. Bush verkörpert. Diese Haltung hat ja auch sehr charmante Seiten, diese amerikanische Art zu sagen: Wir schaffen das, wir sehen die Hindernisse, aber wir packen das. Das ist eine wirklich herzerfrischende Art. Die positive und optimistische Grundeinschätzung des Lebens, die den Amerikanern eigen ist, hat eine Menge für sich.
Sie reiben sich als Künstler an vielem. Offenbar sind Sie in den letzten Jahren wieder wütender geworden?
Man hat mir in der Vergangenheit als Musiker des öfteren eine Bewegung hin zum Seichten unterstellt. Ich kann diesen Eindruck allerdings nicht teilen. Ich habe lediglich ein paar Farben mehr auf meine Palette genommen, denn ich habe nur mit etwas freundlicheren Songtiteln auch die Chance, Erfolg zu haben. So ist die deutsche Medienwelt nun mal gestrickt, und ich muss auf sie reagieren. Ich könnte mich verweigern, die Arme verschränken und sagen: Da mache ich nicht mit. Dann muss ich aber auch damit leben, dass bei Konzerten die Reihen halb leer bleiben und die Plattenumsätze so gering sind, dass ich auf Dauer davon vielleicht nicht leben kann.
Durch die neuen Farben in meiner Palette sind meiner Ansicht nach sehr schöne Lieder entstanden, "Finden Sie Mabel" etwa, was ein großer Hit war. Eine solche Detektiv-Liebesgeschichte hat es so im Deutschen bislang nicht gegeben. Hier habe ich tatsächlich dem ausgelutschten Liebeslied noch eine neue Perspektive abgewonnen.
Ich denke auch, man sollte in dieser erfolgreichen Pop-Phase einiges andere ebenfalls nicht übersehen. Auf dem Album "Dein ist mein ganzes Herz", von dem viele Kritiker meiner Arbeit nur die gleichnamige Hitsingle kennen, findet sich zum Beispiel der Song "Madagaskar", eines der meiner Meinung nach markantesten Lieder über die Judenvernichtung. Oder nehmen Sie meinen späteren Song "Wunderkinder", eine bösartige Bestandsaufnahme der 50er Jahre. Dieser Faden in meiner Arbeit ist aus meiner Sicht eigentlich nie gerissen.
In einem Buch kann man natürlich noch hemmungsloser zu Werke gehen als auf einer Platte. Da muss man keine Rücksicht auf die Radiolandschaft nehmen, wo man sich zwischen Yvonne Catterfeld und Howard Carpendale behaupten muss.
Sie haben mit dem Verweis auf die deutsche Radiolandschaft das Stichwort gegeben: Uns wird ja heute viel als Pop zugemutet. Sie sprechen sich mittlerweile sogar dafür aus, Popmusik zu verbieten, damit sie wieder etwas wert wird.
Die Idee habe ich streng genommen geklaut. Vor vielen Jahren hat mich ein Aufsatz von Hans Magnus Enzensberger im "Spiegel" sehr beeindruckt, in dem er schrieb, man solle deutsche Literatur aus dem Deutschunterricht an Schulen herausnehmen, sie verbieten, mit einem Tabu belegen und mit Strafen drohen, dann würden die Schüler lesen wie die Wilden. Diesen Ansatz habe ich auf Popmusik übertragen.
Vielleicht würden wir bei einem Verbot von Popmusik wieder genauer hinhören wollen. Aber es ist natürlich nicht damit zu rechnen.
Ist die Popmusik tot?
Ja, schon seit einiger Zeit. Die Popmusik ist längst im Würgegriff der Industrie und der Werbung. Es zieht mir zum Beispiel ein leichtes Sausen durch die Hoden, wenn ich "My Generation" von The Who in irgendeinem Werbespot höre. Es schmerzt mich, so etwas mit ansehen zu müssen. Aber die Popmusik ist immer noch eine ganz hübsche Leiche.
Was könnte man tun, um die Tote wiederzubeleben?
Von den Ägyptern lernen: sie einbalsamieren. (lacht)
Was ist denn eigentlich für Sie Popmusik?
So wie sie mir gegenübertritt, ist sie ein Bereich, der mich nicht interessiert und in dieser Form auch tatsächlich nie interessiert hat. Ich habe nicht mal als Frühpubertierender irgendwelche "Bravo"-Poster an den Wänden gehabt. Ich habe mich, solange ich mich überhaupt für Musik interessiere, immer um die wirklich spannende gekümmert. Nun gut, ich gebe zu, Hendrix hing bei mir durchaus mal an der Wand. Aber Smokie eben nie. (lacht)
Popmusik ist für mich wie Schlager: Ich nehme zur Kenntnis, dass es das gibt und wahrscheinlich geben muss, weil das manchen Leuten gefällt. Ich bin nicht mehr bereit, diese Leute zu verdammen, da bin ich inzwischen doch reifer und abgeklärter. Dann soll es das eben in Dreiteufelsnamen geben. Ich muss mich ja nicht dafür interessieren.
Heute werden vermeintliche Popstars im Handumdrehen in irgendwelchen dubiosen Casting-Shows gezeugt. Soll man diese Pop- und Superstars aus der Retorte zum Schafott zerren, auf dem Altar des guten Geschmacks opfern?
Mit denen wird ja schon exakt so verfahren. Sie werden kurzfristig benutzt wie Marionetten, und dann werden sie weggeworfen. Nach kurzem Auswringen sind sie nichts mehr wert.
An diesen Shows haben ohnehin nur die Angloamerikaner, die das Konzept dafür erfunden haben, richtig Knete verdient, vielleicht auch die Juroren - aber die armen Hascherl, die sich dafür hergeben, so etwas mitzumachen, überleben zu 99 Prozent kein Jahr lang in diesem Gewerbe. Das ist für diese jungen Menschen dann sehr bitter: Den unglaublichen Ruhm, der schlagartig auf sie einstürmt, wieder eintauschen zu müssen gegen völliges Unbekanntsein - das muss sehr wehtun. Da werden Menschen auf unverantwortliche Weise psychisch gebrochen. Es ist schlimm, was da passiert!
Sie schmähen, vor allem in Ihrer Kurzprosa, das Konsumentenpublikum als "gähnmanipulierte Hornochsen", wettern gegen Babyklappen und gegen einen Manipulationsdrill, der Kinder und Jugendliche zu "fickbarer Verfügungsmasse" machen will. Schreiben Sie an einem neuen "Untergang des Abendlandes"?
Ich weiß nicht, ob ich wirklich in kürzerer Frist mit einem solchen Untergang rechnen soll. Ich habe die Atomangst noch selbst miterlebt. Die Welt ist damals nicht untergegangen. Sie hat sogar Ronald Reagan überlebt. Der Weltuntergang hat bis heute nicht stattgefunden. Er ist schon so oft vorausgesagt worden - seitdem die Menschheit denkt, rechnet sie damit -, aber es ist bislang noch nichts in dieser Richtung geschehen.
Deshalb habe ich auch etwas gegen Leute, die keine Kinder in die Welt setzen wollen, weil diese Welt angeblich so schlecht und unerträglich ist. Solche Leute finde ich furchtbar peinlich. Ich glaube, dass mit jedem Kind, das geboren wird, eine Chance besteht, dass eines von diesen vielen Kindern die Idee in sich trägt, die uns alle retten kann. Es gibt sicherlich viele Menschen, die aus medizinischen Gründen keine Kinder bekommen können, und diese haben meinen Respekt - aber es gibt auch sehr viele, die aus Bequemlichkeit oder weil sie total bindungsunfähig sind, keine Kinder wollen.
Sind wir zu fett und faul geworden?
Dass unsere Gesellschaft sich in einer dekadenten Phase, in einer Phase des Niederganges befindet, ist, glaube ich, unzweifelhaft. Das merkt man nicht nur hieran.
Wie kommen wir aus dieser Zwickmühle wieder heraus?
Wenn ich eine Antwort wüsste, hätte ich ein weißes Hemd an und einen schwarzen Schlips um und hätte wahrscheinlich vor Jahren schon eine Partei gegründet.
Ich sehe mit großer Beklemmung die immer weiter steigenden Arbeitslosenzahlen und den langsamen Ausklang des deutschen Wirtschaftswunders, ich sehe unsere Gesättigtheit und mit großer Sorge die Entvölkerung Ostdeutschlands, die Verelendung ganzer Landstriche - kann aber nicht erkennen, wie das alles umgekehrt werden kann. Ich möchte zurzeit wirklich kein Politiker sein! Das ist ein verdammt blöder Job, denn man kann ihn eigentlich nur falsch machen.
Das Sich-sorgen ist ja eher eine Eigenschaft, die Konservative auszeichnet. Höre ich aus Ihren Worten eine zunehmend konservative Grundhaltung heraus?
Ich weiß nicht. Hat sich Friedrich Engels weniger Sorgen gemacht als ich? (lacht)
Um andere Dinge sicherlich.
Das mag sein. Aber ich denke, dass dieses Sich-sorgen jemanden noch nicht politisch verortet. Das ist einfach eine Frage des Älterwerdens und des größeren Wissens. Wenn man wie ich langsam auf die 50 zugeht, dann weiß man, was man alles zu verlieren hat, nicht nur materiell.
Ich war in meinen frühen Arbeiten manchmal sehr unwirsch und sehr schnell mit einem Urteil. Ich war mir auch ziemlich sicher, was schwarz und was weiß ist. Je länger ich lebe und je mehr ich weiß, desto vorsichtiger werde ich, weil ich inzwischen verblüffende Erfahrungen gemacht habe. Ich habe zum Beispiel einige Politiker kennen gelernt, in deren Fall ich mir früher nicht hätte vorstellen können, mit denen freiwillig in einem Raum zu sein. Ich habe sie aber als ausgesprochen nett und intelligent und zum Teil als wirklich sehr sympathisch erlebt. So etwas macht einen schon nachdenklich. Das eigene Urteil braucht dann zunehmend länger.
Der zornige junge Mann Heinz Rudolf Kunze, als der Sie früher apostrophiert wurden, ist also Geschichte?
Das mit dem zornigen jungen Mann klappt schon biologisch nicht mehr. (lacht) Aber ich hoffe, dass noch eine gute Portion Zorn in mir vorhanden ist und nicht alles in buddhistischer Altersweisheit aufgeht. Ich habe allerdings gelernt, mit meinen Kräften etwas mehr hauszuhalten. Ich würde nicht mehr irgendwelche unnötigen verbalen Rundumschläge vollziehen. Das alles bringt nichts. Man muss auch anderes mal gelten lassen können. Man muss es ja deswegen noch nicht mögen. Ich bündele heute lieber meine Kräfte und gerate in Zorn, wo es sich wirklich lohnt.
Sie sind immer wieder jemand gewesen, der bereit war, für die Angelegenheiten anderer nach vorne zu gehen und dafür zu streiten. Ich erinnere an Ihre Forderung nach Einführung einer Quote für deutsche Künstler im Radio aus den 90-er Jahren. Inzwischen haben einige Ihrer Kollegen wie Reinhard Mey und Peter Maffay diese Forderung im Schulterschluss aufgegriffen. In Ihrem Fall war das damals etwas anders: Als die Kugel auf der Bahn war, standen Sie plötzlich sehr alleine da.
Das war eine sehr bittere Erfahrung und auch der letzte noch nötige Beweis, dass es in unserer Branche keine Solidarität gibt, sondern nur Empfindlichkeiten und spitze Ellenbogen. Und Habgier. (lacht)
Wobei ich aber auch sagen muss, dass es in der Rückbetrachtung immer etwas übertrieben wirkt. Ich lasse ja gerne meine alten Wunden bepusten. Es wurden damals durchaus rüde Attacken gegen mich geritten - seltsamerweise ausgerechnet von der deutschen Musikpresse. Ich muss aber sagen, dass es auch faire Darstellungen des Problems gab.
Ich bin seinerzeit die Klassensprecherrolle, in die ich hineingedrängt worden war, absolut leid gewesen. Und ich habe, als die Quoten-Debatte wieder aufgekommen ist, versucht zu mahnen, zu warnen und die Kollegen zu beruhigen. Ich war auch diesmal durchaus dabei - allerdings in der zweiten Reihe. Ich habe meinen Kollegen geraten: Holt euch doch nicht die gleiche blutige Nase wie ich damals. Es ist doch vollkommen sinnlos. Ich habe längere Zeit in der Bundestags-Enquetekommission "Kultur in Deutschland" mitgearbeitet, ich kenne Experten aller Couleur - und ich weiß, dass das Ansinnen einer Quote für deutsche Künstler im Radio aussichtslos ist. Wir werden keine solche Quote durchkriegen, denn wir sind ein föderalistischer Staat und nicht ein zentralistischer wie Frankreich, wo mit einem Federstrich des Kulturministers quasi der Rundfunk gleichgeschaltet werden kann. Das ist in Deutschland nicht möglich.
Was wäre denn in Deutschland möglich?
Ich kann jedem, dem an der Sache etwas liegt, nur raten: Bildet mit Politikern aller Parteien eine Gruppe, reist durch das Land, überzeugt die Menschen im Gespräch! Ermutigt sie zum eigenen Appell an die Sender!
Von den Radiosendern wird inzwischen die Position verfochten, dass es heute viele erfolgreiche deutsche Musikproduktionen gebe und diese auch gesendet würden. Aber das sind bloß Alibibehauptungen. Solche erfolgreichen deutschen Vertreter gibt es alle zehn Jahre mal - und dann herrscht wieder acht Jahre Dunkelheit. Warten wir erst einmal ab, welche der jungen, zurzeit erfolgreichen Kollegen sich lange halten können und ob die Medien ihnen auch nach der zweiten Platte noch die Stange halten.
Das Grundproblem bleibt trotz erneuter Quotendiskussion bislang ungelöst: Wie kann man deutsche Popmusik populärer machen?
Wir sind auf gar keinem schlechten Weg, nicht zuletzt durch den deutschen HipHop. Es ist Bewegung in die Landschaft gekommen. Die Zahl der Konzertbesucher - die Abstimmung mit den Füßen somit - spricht hier eine deutliche Sprache. In dieser Hinsicht sind deutsche Produktionen sehr populär geworden.
Bloß: In den Medien wird dies noch nicht genügend abgebildet. Sie hinken der Entwicklung weit hinterher. Junge Menschen hören Radio, schauen Fernsehen - aber wenn sie in diesen Medien nicht dazu ermutigt werden, sich in ihrer eigenen Sprache auszudrücken, wenn sie glauben, nur mit Englisch eine Chance auf dem Musikmarkt zu haben, dann ist das verheerend für die kulturelle Identität unseres Landes. Um es ganz deutlich zu sagen: Mich interessiert in diesem Zusammenhang nur deutschsprachige Pop- und Rockmusik. Ich habe keinerlei Interesse, mich für deutsche Produktionen in englischer Sprache einzusetzen. Eine Jeanette Biedermann braucht keinen Artenschutz, denn so etwas wie sie funktioniert sowieso.
In anderen europäischen Ländern - zum Beispiel in osteuropäischen Ländern wie Polen, Tschechien oder Russland - ist es ganz normal, dass junge Musiker in ihrer Landessprache singen. Warum tun wir uns so schwer damit?
Wir kämpfen immer noch mit dem langen Schatten Hitlers. Selbst in der Rockmusik. Dieser Schatten spielt vor allem in den Medien, bei den Entscheidern eine Rolle. Die Deutschen haben eine manchmal zu hohe Sensibilität, sich zu sich selbst zu bekennen. Das ist immer noch nicht ausgestanden. Roman Herzog hat als Bundespräsident ja zu einem unverkrampften Verhältnis zu uns selbst aufgerufen. Meiner Auffassung nach war das allerdings Wunschdenken und ein Pfeifen im Dunkeln. Wir sind von dem, was in unserem Namen in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts angerichtet wurde, bis ins Mark erschüttert und verletzt worden. Das ist noch nicht durch. Wir verhalten uns - wie übrigens auch die Japaner, die ebenfalls den Zweiten Weltkrieg verloren haben - wie Schwämme: Wir saugen alles Kulturelle aus dem Ausland auf, weil wir unsicher sind, was wir mit uns selber anfangen sollen.
Sie haben, als Sie noch in Osnabrück lebten, für die dortige SPD im Oberbürgermeister-Wahlkampf mitgemischt. Sie haben bei Diether Dehms SPD-Parteisong "Das weiche Wasser bricht den Stein" mitgesungen. Würden Sie auch heute noch Werbung für die SPD machen?
Nein. Ich bin vor einigen Jahren aus der SPD ausgetreten. Ich habe Freunde aus verschiedenen Parteien. Ich genieße auch, dass diese aus so unterschiedlichen politischen Ecken kommen. Aber ich selbst möchte nicht mehr unter dem Spruchband einer bestimmten Partei agieren müssen.
Ich bin in politischer Hinsicht kein Intellektueller, sondern ganz naiv: Wenn mir jemand als Person einleuchtet, dann kann ich mit ihm auch politisch etwas anfangen, ohne dass das gleich zu politischen Bindungen führt.
Kratzt es nicht vielleicht auch an der Souveränität von Künstlern, wenn sie sich an eine bestimmte Partei anhängen?
Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund! Was aber nicht heißt, dass es nicht viel wert ist, wenn man sich mit Politikern verschiedener Richtungen entspannt und freundlich unterhalten kann.
Interview: André Hagel
Heinz Rudolf Kunze: Jahrgang 1956, Studium der Germanistik und Philosophie an den Universitäten Münster und Osnabrück, 1978 Literatur-Förderpreis seiner Heimatstadt Osnabrück, 1981 erstes Album "Reine Nervensache", später deutsche Libretti für erfolgreiche Musicals wie "Les Misérables", "Miss Saigon", "Joseph", "Rent". 2003 zusammen mit Heiner Lürig erstes eigenes Musical "Ein Sommernachtstraum" (nach William Shakespeare), 2004 das Musical "Poe - Pech und Schwefel". 2003 bis 2005 Mitglied der Bundestags-Enquetekommission "Kultur in Deutschland". Kunze produzierte insgesamt mehr als 40 Singles und 25 Alben, zuletzt "Das Original" (2005). Aktuelle Buchveröffentlichung: "Artgerechte Haltung - Texte 2003-2005" (Ch. Links Verlag, Berlin)
Quelle:-http://sozialisten.de/politik/publikati ... &bs=1&n=19
In Zorn, wo es sich wirklich lohnt
Ratlose Hoffnung. Im Gespräch mit Rockpoet Heinz Rudolf Kunze
Ganz Deutschland redet anscheinend momentan am liebsten über sich selbst. Ihr Beitrag zur Nabelschau?
Reden wir am liebsten über uns selbst? Ich finde, dass Deutschland nicht nur auf Grund seiner Mittellage in Europa, sondern auch auf Grund seiner geschichtlichen Nervosität eher ein Land ist, das sich sehr stark für die restliche Welt interessiert. In vielen anderen Länden habe ich das Gefühl, dass es sich dort viel stärker um das eigene Land dreht und der Rest der Welt unter "ferner liefen" rangiert. Das krasseste Beispiel sind sicherlich die USA, wo man etwa in Houston am Wochenende eine fast armdicke Wochenzeitung kaufen kann, in der die Weltpolitik aber nur die letzten vier Seiten ausmacht.
Ich gebe allerdings zu, dass die Deutschen durchaus ein besonderes Talent zum Grübeln und zum Pessimismus haben. Die Deutschen sind beispielsweise viel melancholischer als die Portugiesen, denen das ja mit Blick auf ihre Musik immer nachgesagt wird.
Natürlich hat dieses ausgeprägte Grübeln auch Stärken. Die deutsche Philosophie zum Beispiel gehört zu den wichtigsten Philosophien der Welt - sie ist vielleicht die wichtigste überhaupt - und hat etwa in Gestalt von Marx oder Kant die ganze Welt geprägt. Das gründliche deutsche Denken bringt nicht nur Ungeheuer hervor, sondern zeitigt auch große Leistungen. Offensichtlich ist die deutsche Sprache eine, in der es sich besonders gut analytisch denken lässt. Hierin ist sie vielleicht dem Lateinischen nicht unverwandt.
Man muss das allerdings janusköpfig sehen: Das deutsche Grübeln und Nachdenken hat gute, aber eben auch schlechte Seiten.
Die Deutschen könnten zum Beispiel von manchen anderen Ländern lernen. Etwa von Amerika, dessen pioniermäßige Hemdsärmeligkeit sich beileibe nicht bloß in George W. Bush verkörpert. Diese Haltung hat ja auch sehr charmante Seiten, diese amerikanische Art zu sagen: Wir schaffen das, wir sehen die Hindernisse, aber wir packen das. Das ist eine wirklich herzerfrischende Art. Die positive und optimistische Grundeinschätzung des Lebens, die den Amerikanern eigen ist, hat eine Menge für sich.
Sie reiben sich als Künstler an vielem. Offenbar sind Sie in den letzten Jahren wieder wütender geworden?
Man hat mir in der Vergangenheit als Musiker des öfteren eine Bewegung hin zum Seichten unterstellt. Ich kann diesen Eindruck allerdings nicht teilen. Ich habe lediglich ein paar Farben mehr auf meine Palette genommen, denn ich habe nur mit etwas freundlicheren Songtiteln auch die Chance, Erfolg zu haben. So ist die deutsche Medienwelt nun mal gestrickt, und ich muss auf sie reagieren. Ich könnte mich verweigern, die Arme verschränken und sagen: Da mache ich nicht mit. Dann muss ich aber auch damit leben, dass bei Konzerten die Reihen halb leer bleiben und die Plattenumsätze so gering sind, dass ich auf Dauer davon vielleicht nicht leben kann.
Durch die neuen Farben in meiner Palette sind meiner Ansicht nach sehr schöne Lieder entstanden, "Finden Sie Mabel" etwa, was ein großer Hit war. Eine solche Detektiv-Liebesgeschichte hat es so im Deutschen bislang nicht gegeben. Hier habe ich tatsächlich dem ausgelutschten Liebeslied noch eine neue Perspektive abgewonnen.
Ich denke auch, man sollte in dieser erfolgreichen Pop-Phase einiges andere ebenfalls nicht übersehen. Auf dem Album "Dein ist mein ganzes Herz", von dem viele Kritiker meiner Arbeit nur die gleichnamige Hitsingle kennen, findet sich zum Beispiel der Song "Madagaskar", eines der meiner Meinung nach markantesten Lieder über die Judenvernichtung. Oder nehmen Sie meinen späteren Song "Wunderkinder", eine bösartige Bestandsaufnahme der 50er Jahre. Dieser Faden in meiner Arbeit ist aus meiner Sicht eigentlich nie gerissen.
In einem Buch kann man natürlich noch hemmungsloser zu Werke gehen als auf einer Platte. Da muss man keine Rücksicht auf die Radiolandschaft nehmen, wo man sich zwischen Yvonne Catterfeld und Howard Carpendale behaupten muss.
Sie haben mit dem Verweis auf die deutsche Radiolandschaft das Stichwort gegeben: Uns wird ja heute viel als Pop zugemutet. Sie sprechen sich mittlerweile sogar dafür aus, Popmusik zu verbieten, damit sie wieder etwas wert wird.
Die Idee habe ich streng genommen geklaut. Vor vielen Jahren hat mich ein Aufsatz von Hans Magnus Enzensberger im "Spiegel" sehr beeindruckt, in dem er schrieb, man solle deutsche Literatur aus dem Deutschunterricht an Schulen herausnehmen, sie verbieten, mit einem Tabu belegen und mit Strafen drohen, dann würden die Schüler lesen wie die Wilden. Diesen Ansatz habe ich auf Popmusik übertragen.
Vielleicht würden wir bei einem Verbot von Popmusik wieder genauer hinhören wollen. Aber es ist natürlich nicht damit zu rechnen.
Ist die Popmusik tot?
Ja, schon seit einiger Zeit. Die Popmusik ist längst im Würgegriff der Industrie und der Werbung. Es zieht mir zum Beispiel ein leichtes Sausen durch die Hoden, wenn ich "My Generation" von The Who in irgendeinem Werbespot höre. Es schmerzt mich, so etwas mit ansehen zu müssen. Aber die Popmusik ist immer noch eine ganz hübsche Leiche.
Was könnte man tun, um die Tote wiederzubeleben?
Von den Ägyptern lernen: sie einbalsamieren. (lacht)
Was ist denn eigentlich für Sie Popmusik?
So wie sie mir gegenübertritt, ist sie ein Bereich, der mich nicht interessiert und in dieser Form auch tatsächlich nie interessiert hat. Ich habe nicht mal als Frühpubertierender irgendwelche "Bravo"-Poster an den Wänden gehabt. Ich habe mich, solange ich mich überhaupt für Musik interessiere, immer um die wirklich spannende gekümmert. Nun gut, ich gebe zu, Hendrix hing bei mir durchaus mal an der Wand. Aber Smokie eben nie. (lacht)
Popmusik ist für mich wie Schlager: Ich nehme zur Kenntnis, dass es das gibt und wahrscheinlich geben muss, weil das manchen Leuten gefällt. Ich bin nicht mehr bereit, diese Leute zu verdammen, da bin ich inzwischen doch reifer und abgeklärter. Dann soll es das eben in Dreiteufelsnamen geben. Ich muss mich ja nicht dafür interessieren.
Heute werden vermeintliche Popstars im Handumdrehen in irgendwelchen dubiosen Casting-Shows gezeugt. Soll man diese Pop- und Superstars aus der Retorte zum Schafott zerren, auf dem Altar des guten Geschmacks opfern?
Mit denen wird ja schon exakt so verfahren. Sie werden kurzfristig benutzt wie Marionetten, und dann werden sie weggeworfen. Nach kurzem Auswringen sind sie nichts mehr wert.
An diesen Shows haben ohnehin nur die Angloamerikaner, die das Konzept dafür erfunden haben, richtig Knete verdient, vielleicht auch die Juroren - aber die armen Hascherl, die sich dafür hergeben, so etwas mitzumachen, überleben zu 99 Prozent kein Jahr lang in diesem Gewerbe. Das ist für diese jungen Menschen dann sehr bitter: Den unglaublichen Ruhm, der schlagartig auf sie einstürmt, wieder eintauschen zu müssen gegen völliges Unbekanntsein - das muss sehr wehtun. Da werden Menschen auf unverantwortliche Weise psychisch gebrochen. Es ist schlimm, was da passiert!
Sie schmähen, vor allem in Ihrer Kurzprosa, das Konsumentenpublikum als "gähnmanipulierte Hornochsen", wettern gegen Babyklappen und gegen einen Manipulationsdrill, der Kinder und Jugendliche zu "fickbarer Verfügungsmasse" machen will. Schreiben Sie an einem neuen "Untergang des Abendlandes"?
Ich weiß nicht, ob ich wirklich in kürzerer Frist mit einem solchen Untergang rechnen soll. Ich habe die Atomangst noch selbst miterlebt. Die Welt ist damals nicht untergegangen. Sie hat sogar Ronald Reagan überlebt. Der Weltuntergang hat bis heute nicht stattgefunden. Er ist schon so oft vorausgesagt worden - seitdem die Menschheit denkt, rechnet sie damit -, aber es ist bislang noch nichts in dieser Richtung geschehen.
Deshalb habe ich auch etwas gegen Leute, die keine Kinder in die Welt setzen wollen, weil diese Welt angeblich so schlecht und unerträglich ist. Solche Leute finde ich furchtbar peinlich. Ich glaube, dass mit jedem Kind, das geboren wird, eine Chance besteht, dass eines von diesen vielen Kindern die Idee in sich trägt, die uns alle retten kann. Es gibt sicherlich viele Menschen, die aus medizinischen Gründen keine Kinder bekommen können, und diese haben meinen Respekt - aber es gibt auch sehr viele, die aus Bequemlichkeit oder weil sie total bindungsunfähig sind, keine Kinder wollen.
Sind wir zu fett und faul geworden?
Dass unsere Gesellschaft sich in einer dekadenten Phase, in einer Phase des Niederganges befindet, ist, glaube ich, unzweifelhaft. Das merkt man nicht nur hieran.
Wie kommen wir aus dieser Zwickmühle wieder heraus?
Wenn ich eine Antwort wüsste, hätte ich ein weißes Hemd an und einen schwarzen Schlips um und hätte wahrscheinlich vor Jahren schon eine Partei gegründet.
Ich sehe mit großer Beklemmung die immer weiter steigenden Arbeitslosenzahlen und den langsamen Ausklang des deutschen Wirtschaftswunders, ich sehe unsere Gesättigtheit und mit großer Sorge die Entvölkerung Ostdeutschlands, die Verelendung ganzer Landstriche - kann aber nicht erkennen, wie das alles umgekehrt werden kann. Ich möchte zurzeit wirklich kein Politiker sein! Das ist ein verdammt blöder Job, denn man kann ihn eigentlich nur falsch machen.
Das Sich-sorgen ist ja eher eine Eigenschaft, die Konservative auszeichnet. Höre ich aus Ihren Worten eine zunehmend konservative Grundhaltung heraus?
Ich weiß nicht. Hat sich Friedrich Engels weniger Sorgen gemacht als ich? (lacht)
Um andere Dinge sicherlich.
Das mag sein. Aber ich denke, dass dieses Sich-sorgen jemanden noch nicht politisch verortet. Das ist einfach eine Frage des Älterwerdens und des größeren Wissens. Wenn man wie ich langsam auf die 50 zugeht, dann weiß man, was man alles zu verlieren hat, nicht nur materiell.
Ich war in meinen frühen Arbeiten manchmal sehr unwirsch und sehr schnell mit einem Urteil. Ich war mir auch ziemlich sicher, was schwarz und was weiß ist. Je länger ich lebe und je mehr ich weiß, desto vorsichtiger werde ich, weil ich inzwischen verblüffende Erfahrungen gemacht habe. Ich habe zum Beispiel einige Politiker kennen gelernt, in deren Fall ich mir früher nicht hätte vorstellen können, mit denen freiwillig in einem Raum zu sein. Ich habe sie aber als ausgesprochen nett und intelligent und zum Teil als wirklich sehr sympathisch erlebt. So etwas macht einen schon nachdenklich. Das eigene Urteil braucht dann zunehmend länger.
Der zornige junge Mann Heinz Rudolf Kunze, als der Sie früher apostrophiert wurden, ist also Geschichte?
Das mit dem zornigen jungen Mann klappt schon biologisch nicht mehr. (lacht) Aber ich hoffe, dass noch eine gute Portion Zorn in mir vorhanden ist und nicht alles in buddhistischer Altersweisheit aufgeht. Ich habe allerdings gelernt, mit meinen Kräften etwas mehr hauszuhalten. Ich würde nicht mehr irgendwelche unnötigen verbalen Rundumschläge vollziehen. Das alles bringt nichts. Man muss auch anderes mal gelten lassen können. Man muss es ja deswegen noch nicht mögen. Ich bündele heute lieber meine Kräfte und gerate in Zorn, wo es sich wirklich lohnt.
Sie sind immer wieder jemand gewesen, der bereit war, für die Angelegenheiten anderer nach vorne zu gehen und dafür zu streiten. Ich erinnere an Ihre Forderung nach Einführung einer Quote für deutsche Künstler im Radio aus den 90-er Jahren. Inzwischen haben einige Ihrer Kollegen wie Reinhard Mey und Peter Maffay diese Forderung im Schulterschluss aufgegriffen. In Ihrem Fall war das damals etwas anders: Als die Kugel auf der Bahn war, standen Sie plötzlich sehr alleine da.
Das war eine sehr bittere Erfahrung und auch der letzte noch nötige Beweis, dass es in unserer Branche keine Solidarität gibt, sondern nur Empfindlichkeiten und spitze Ellenbogen. Und Habgier. (lacht)
Wobei ich aber auch sagen muss, dass es in der Rückbetrachtung immer etwas übertrieben wirkt. Ich lasse ja gerne meine alten Wunden bepusten. Es wurden damals durchaus rüde Attacken gegen mich geritten - seltsamerweise ausgerechnet von der deutschen Musikpresse. Ich muss aber sagen, dass es auch faire Darstellungen des Problems gab.
Ich bin seinerzeit die Klassensprecherrolle, in die ich hineingedrängt worden war, absolut leid gewesen. Und ich habe, als die Quoten-Debatte wieder aufgekommen ist, versucht zu mahnen, zu warnen und die Kollegen zu beruhigen. Ich war auch diesmal durchaus dabei - allerdings in der zweiten Reihe. Ich habe meinen Kollegen geraten: Holt euch doch nicht die gleiche blutige Nase wie ich damals. Es ist doch vollkommen sinnlos. Ich habe längere Zeit in der Bundestags-Enquetekommission "Kultur in Deutschland" mitgearbeitet, ich kenne Experten aller Couleur - und ich weiß, dass das Ansinnen einer Quote für deutsche Künstler im Radio aussichtslos ist. Wir werden keine solche Quote durchkriegen, denn wir sind ein föderalistischer Staat und nicht ein zentralistischer wie Frankreich, wo mit einem Federstrich des Kulturministers quasi der Rundfunk gleichgeschaltet werden kann. Das ist in Deutschland nicht möglich.
Was wäre denn in Deutschland möglich?
Ich kann jedem, dem an der Sache etwas liegt, nur raten: Bildet mit Politikern aller Parteien eine Gruppe, reist durch das Land, überzeugt die Menschen im Gespräch! Ermutigt sie zum eigenen Appell an die Sender!
Von den Radiosendern wird inzwischen die Position verfochten, dass es heute viele erfolgreiche deutsche Musikproduktionen gebe und diese auch gesendet würden. Aber das sind bloß Alibibehauptungen. Solche erfolgreichen deutschen Vertreter gibt es alle zehn Jahre mal - und dann herrscht wieder acht Jahre Dunkelheit. Warten wir erst einmal ab, welche der jungen, zurzeit erfolgreichen Kollegen sich lange halten können und ob die Medien ihnen auch nach der zweiten Platte noch die Stange halten.
Das Grundproblem bleibt trotz erneuter Quotendiskussion bislang ungelöst: Wie kann man deutsche Popmusik populärer machen?
Wir sind auf gar keinem schlechten Weg, nicht zuletzt durch den deutschen HipHop. Es ist Bewegung in die Landschaft gekommen. Die Zahl der Konzertbesucher - die Abstimmung mit den Füßen somit - spricht hier eine deutliche Sprache. In dieser Hinsicht sind deutsche Produktionen sehr populär geworden.
Bloß: In den Medien wird dies noch nicht genügend abgebildet. Sie hinken der Entwicklung weit hinterher. Junge Menschen hören Radio, schauen Fernsehen - aber wenn sie in diesen Medien nicht dazu ermutigt werden, sich in ihrer eigenen Sprache auszudrücken, wenn sie glauben, nur mit Englisch eine Chance auf dem Musikmarkt zu haben, dann ist das verheerend für die kulturelle Identität unseres Landes. Um es ganz deutlich zu sagen: Mich interessiert in diesem Zusammenhang nur deutschsprachige Pop- und Rockmusik. Ich habe keinerlei Interesse, mich für deutsche Produktionen in englischer Sprache einzusetzen. Eine Jeanette Biedermann braucht keinen Artenschutz, denn so etwas wie sie funktioniert sowieso.
In anderen europäischen Ländern - zum Beispiel in osteuropäischen Ländern wie Polen, Tschechien oder Russland - ist es ganz normal, dass junge Musiker in ihrer Landessprache singen. Warum tun wir uns so schwer damit?
Wir kämpfen immer noch mit dem langen Schatten Hitlers. Selbst in der Rockmusik. Dieser Schatten spielt vor allem in den Medien, bei den Entscheidern eine Rolle. Die Deutschen haben eine manchmal zu hohe Sensibilität, sich zu sich selbst zu bekennen. Das ist immer noch nicht ausgestanden. Roman Herzog hat als Bundespräsident ja zu einem unverkrampften Verhältnis zu uns selbst aufgerufen. Meiner Auffassung nach war das allerdings Wunschdenken und ein Pfeifen im Dunkeln. Wir sind von dem, was in unserem Namen in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts angerichtet wurde, bis ins Mark erschüttert und verletzt worden. Das ist noch nicht durch. Wir verhalten uns - wie übrigens auch die Japaner, die ebenfalls den Zweiten Weltkrieg verloren haben - wie Schwämme: Wir saugen alles Kulturelle aus dem Ausland auf, weil wir unsicher sind, was wir mit uns selber anfangen sollen.
Sie haben, als Sie noch in Osnabrück lebten, für die dortige SPD im Oberbürgermeister-Wahlkampf mitgemischt. Sie haben bei Diether Dehms SPD-Parteisong "Das weiche Wasser bricht den Stein" mitgesungen. Würden Sie auch heute noch Werbung für die SPD machen?
Nein. Ich bin vor einigen Jahren aus der SPD ausgetreten. Ich habe Freunde aus verschiedenen Parteien. Ich genieße auch, dass diese aus so unterschiedlichen politischen Ecken kommen. Aber ich selbst möchte nicht mehr unter dem Spruchband einer bestimmten Partei agieren müssen.
Ich bin in politischer Hinsicht kein Intellektueller, sondern ganz naiv: Wenn mir jemand als Person einleuchtet, dann kann ich mit ihm auch politisch etwas anfangen, ohne dass das gleich zu politischen Bindungen führt.
Kratzt es nicht vielleicht auch an der Souveränität von Künstlern, wenn sie sich an eine bestimmte Partei anhängen?
Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund! Was aber nicht heißt, dass es nicht viel wert ist, wenn man sich mit Politikern verschiedener Richtungen entspannt und freundlich unterhalten kann.
Interview: André Hagel
Heinz Rudolf Kunze: Jahrgang 1956, Studium der Germanistik und Philosophie an den Universitäten Münster und Osnabrück, 1978 Literatur-Förderpreis seiner Heimatstadt Osnabrück, 1981 erstes Album "Reine Nervensache", später deutsche Libretti für erfolgreiche Musicals wie "Les Misérables", "Miss Saigon", "Joseph", "Rent". 2003 zusammen mit Heiner Lürig erstes eigenes Musical "Ein Sommernachtstraum" (nach William Shakespeare), 2004 das Musical "Poe - Pech und Schwefel". 2003 bis 2005 Mitglied der Bundestags-Enquetekommission "Kultur in Deutschland". Kunze produzierte insgesamt mehr als 40 Singles und 25 Alben, zuletzt "Das Original" (2005). Aktuelle Buchveröffentlichung: "Artgerechte Haltung - Texte 2003-2005" (Ch. Links Verlag, Berlin)
Quelle:-http://sozialisten.de/politik/publikati ... &bs=1&n=19