28* HRK-Remaster Projekt (2009)

die HRK Produkte und Meinungsbilder
Kalle
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Beitrag von Kalle »

Bild****1/2 Die Rezension von Arne Willander
HEINZ RUDOLF KUNZE -Dein ist mein ganzes Herz-

Mit "Ich glaub, es geht los" grüßte er siegesgewiss die Grugahalle - "7000 Geißlein und ich der blaue Bock". Selten wusste ein Sänger so gut, was die Stunde geschlagen hatte, wie Heinz Rudolf Kunze in jenem Frühjahr 1985, als der Autor von "Reine Nervensache" und "Der schwere Mut", der Umdichter von Ray Davies' "Lola" plötzlich "Dein ist mein ganzes Herz" schmachtete.

Kunze fortan aus jedem Radio und in der "Hitparade". Durfte der das? Es war keine Freude, Heinz und seine Musiker bei Dieter Thomas Heck zu sehen. Aber einer musste es wohl machen, könnte man in einer Paraphrase von "Dies ist Klaus" sagen. Einer musste für alle gehen. "Dein ist mein ganzes Herz" machte Kunze sogar bei uns Neuntklässlern berühmt.

Randy Newman, schön und gut -"Väter". Aber näher ging uns "Vertriebener", darin Kunzes Vater- und Heimatlosigkeit, Flüchtlingslager Espelkamp, "Ich will keine Revanche, nur Glück" und das unvergessliche "Ich werd' überall begraben sein". Damals zeterten noch die Landsmannschaften und Trachtenvereine, und Kunze ließ uns spüren, dass es schlimmer ist, niemals eine Heimat zu haben, als eine zu verlieren.

Er war unser Pete Townshend auf dieser Platte, unser Elvis Costello, unser Udo Jürgens. "Du wirst kleiner, wenn du weinst" und "Brennende Hände" hörten wir lieber im Walkman als mit den Kumpels, "Fallensteller" erzählte uns vom Beischlaf und von Eifersucht, und "Madagaskar" erinnerte an den Plan der Nazis, die Juden dorthin auszusiedeln, wo sie es schön warm gehabt hätten.

Nun hören wir einige Demos, Maxi-Versionen und auch zwei unbekannte Songs, das gruselige "Neonröhren" und das aufgekratzte "Hamburg um vier", die Kunze wohl mit allzu gutem Grund nicht auf die Platte genommen hatte. Sie hätten ihn nicht weiter, also: nach vorn gebracht.

"Wunderkinder" (****) (1986) ist kaum schwächer, wenn auch die Hits "Finden Sie Mabel" und "Mit Leib und Seele" in penetranter Allgegenwart unseren Alltag begleiteten. "Wunderkinder" ist der bleibend gültige Song über die Bundesrepublik Deutschland ("Wir werden noch viel schneller als die anderen Kinder alt"), "In der Lobby ist noch Licht" wie auch "Der Schlaf der Vernunft" gehören zu Kunzes gelungensten Stücken - und "Ich brauch' dich jetzt" ist das ganz große Liebeslied.

In seiner Musik drohte indes auf der einen Seite das Bierzelt, auf der anderen der Schwulst. Bläser. Phil Collins. Zwei Maxi-Versionen, drei Live-Fassungen, "Mabel" mit englischem Text: "Marlowe, I'm beggin' you..."

Kunze stemmte sich mit "Einer für alle" dagegen und triumphierte 1990 mit "Brille" (**** 1/2) auf der ein Mitsing-Schlager wie "Wenn du nicht wiederkommst", ein wüst getrommelter "Kriegstanz" und der bittere Herzschmerz von "Alles gelogen" ("Isses nich schön hier? - Doch, schön.") sich mit der komplizierteren Poesie der Meisterstücke "Tausendschön" und "Stirnenfuß" treffen.

Der Rock'n'Roll-Brecher "Doktor, Doktor" ätzt: "Ich trinke ja nicht, weil's mir schmeckt, sondern um besoffen zu sein." "Brille", Kunzes brillanter Rechenschaftsbericht, belehnt zwar Randy Newmans "Four Eyes", und das vordergründig gemütlich-melancholische "Der alte Herr" ähnelt den Liedern "Old Man On The Farm" und "Ghosts" desselben - aber warum nicht vom Besten klauen? Auch die Demo- und Live-Zugaben - darunter "Doktor, Doktor" und "Alles gelogen" - überzeugen. Besser wurde es nicht.

Aber doch sehr gut. "Macht Musik" (****) (1994) ist das letzte Album mit der Verstärkung um Peter Miklas - das wussten sie aber noch nicht, als sie die Platte aufnahmen. Im nachhinein ist natürlich immer vom "Plastikschlagzeug" und den "Keyboards" der 80er Jahre die Rede - auch im Kunze-Lager setzte man nun auf bratzige Gitarren, die B3-Hammond-Orgel und einen aufgekratzten psychedelischen Sound, sehr zum Vorteil der Stücke "Fetter alter Hippie" und "Leg nicht auf" sowie des galligen Rezitativs "Tohuwabohu". Jetzt noch die ersten vier Alben. Bitte. (Warner)

Arne Willander

Quelle: http://www.rollingstone.de/news/article ... ic=Replays
Schreibe (Redet), was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es lesen (hören).
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Thofrock
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Beitrag von Thofrock »

"Hamburg um vier" ist grandios, find ich. Aber ich habe jetzt eine Ahnung warum der Song nicht aufs Album kam, obwohl ja fraglos noch Platz gewesen wäre.

Ansonsten scheint mir das Projekt sehr gelungen, weil so ziemlich alle Songs durch das Mastering gewinnen. Es ist auch, wie sonst oft bei diesen Re-Releases, kein Alibi-Remastering sondern aufwendige Teilarbeit.

Das mal als Einstimmung. Ich will ja nicht alles vorwegnehmen. Als nächstes referiert dann S.N.O.W. über "Wenn der Andere geht".
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Beitrag von Thofrock »

Amazon hat den Preis auf 44,95 Euro gesenkt.

Wer schon bestellt hat, kriegt auch den günstigeren Preis berechnet. Achtet nur drauf, dass Amazon das nicht vergißt.
ulf
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von ulf »

meine Box ist heute gekommen :)
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von notamann »

:D Meine auch - optisch und akustisch eine reine Freude! 8)
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( aus "John Wesley" - Heinz Rudolf Kunze )
An
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von An »

Wirklich sehr schön, die neu gemasterten CD's. Ich kann mich der Meinung nur anschließen, dass die neuen CD's vom Klang den alten Platten gleichen. Das gefällt viel besser als der glatte Protest 2009...
pitscher
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von pitscher »

Wundere mich etwas über die Meinung zum Akkustischen. Wenn ich meine vorhandene CD "Dein ist mein ganzes Herz" mit der remasterten vergleiche, muss ich feststellen, dass der Bass angehoben wurde, die Räumlichkeit aber verloren gegangen ist und alles irgendwie etwas dumpfer klingt. Das ist jetzt für mich dann nicht so der Gewinn. 8O
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von notamann »

Habe mal hier meinen Beitrag von "Ich höre gerade" wiederholt und ergänzt - paßt gerade gut!

Meine persönliche Kurzeinschätzung nach dem ersten Hören aller Alben:

Remastered Oldies:

Teilweise zu viel "pep" für meinen Geschmack - kein Ersatz für die "unschlagbaren Platten" (war ja sicher auch nicht so gedacht)- aber auf jeden Fall interessant und mit neuem Hörgefühl!

Bonusmaterial: Outtakes, Demos und Live-Titel absolut klasse und top-Quality!!

Aufmachung der Alben: Einsame Spitze!!!

Danke Heiner!! 8)
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von An »

Gibt es eigentlich schon eine erste Einschätzung hinsichtlich des bisgerigen Erfolgs des Remaster-Projektes? Tatsächlich wäre eine Fortsetzung ja schön. Falls es dazu aus wirtschaftlichen Erwägungen nicht kommt, wäre doch eine eigene CD mit unveröffentlichtem Material eine Alternative. Zwar würde die vermutlich nur von den Fans gekauft, das gilt aber doch wahrscheinlich genauso für die angekündgte DVD-Box.
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von Thofrock »

An hat geschrieben:Gibt es eigentlich schon eine erste Einschätzung hinsichtlich des bisgerigen Erfolgs des Remaster-Projektes? Tatsächlich wäre eine Fortsetzung ja schön. Falls es dazu aus wirtschaftlichen Erwägungen nicht kommt, wäre doch eine eigene CD mit unveröffentlichtem Material eine Alternative. Zwar würde die vermutlich nur von den Fans gekauft, das gilt aber doch wahrscheinlich genauso für die angekündgte DVD-Box.
Meines Wissens gibts noch keine Resonanz zu den Verkäufen. Ich kann nur sagen, dass die Dinger im Handel recht flächendeckend angeboten werden, die WEA also einiges ausgeliefert haben dürfte.

Wenn die Nachorders nicht so toll sein sollten, bleibt aber immer noch die Maßnahme, den Preis attraktiver zu gestalten. Irgendwann passiert das so oder so.
Mecki
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von Mecki »

PRESSE QUELLE: http://www.foxwahn.de/news.php?readmore=1784
von Holger Stürenburg (ja der !)

http://www.foxwahn.de/news.php?readmore=1784
Heinz Rudolf Kunze
„Dein ist mein ganzes Herz“ (Remastered DeLuxe Edition)
„Wunderkinder“ (Remastered DeLuxe Edition)

(Holger Stürenburg, 20./21. Mai 2009)

Im Januar 2009 veröffentlichte der brillante Brillenträger HEINZ RUDOLF KUNZE seine schier nur als perfekt zu bezeichnende aktuelle Studioproduktion „Protest“ bei Ariola/SONY, eines der prägnantesten, zutreffendsten, bissigsten und genialischsten Alben in der inzwischen rund 29jährigen Karriere des studierten Germanisten und Philosophen. Nun erschienen kürzlich, im Anschluß an eine durchwegs gefeierte Deutschland-Tournee des heutzutage nahe Hannover ansässigen Wortartisten und Um-ein-Haar-Lehrer an der dortigen „Käthe-Kollwitz-Schule“, die vier kommerziell erfolgreichsten Kunze-Werke der 80er und 90er Jahre, um so faszinierende, wie ultraseltene bzw. bisher in den Archiven schmorende Bonustracks angereichert, sowohl jeweils einzeln, als auch – allerdings nur und exklusiv bei Amazon.de – im Rahmen einer Vier-CD-Box, in Form einer „Remastered DeLuxe Edition“. Heinz’ (ehemaliger?!?!) Gitarrist Heiner Lürig, stellte, in Zusammenarbeit mit dem Meister selbst, und dessen ehemaliger Plattenfirma WARNER MUSIC GROUP, phantastische Neueditionen der Hitparadenstürmer „Dein ist mein ganzes Herz“ (1985), „Wunderkinder“ (1986), „Brille“ (1991) und „Kunze: Macht Musik“ (1994) zusammen, die den Alt-Fan, wie gleichsam den Neueinsteiger in Sachen HRK, unisono begeistern dürften.

Wir erinnern uns: Nach dem inhaltlich absolut trefflichen, musikalisch aber noch sehr avantgardistisch/vertrackt/sperrig inszenierten Meisterwerk „Ausnahmezustand“, das zum Weihnachtsgeschäft des „Orwell-Jahres“ dem Schallplattenmarkt zugeführt worden war, kam es zum (musikalischen, nicht menschlichen) Zerwürfnis zwischen Heinz und seinem langjährigen Freund, Förderer und Gitarristen Mick Franke. Mick war sicherlich kaum weniger schüchtern, begabt und introvertiert, wie Heinz, konnte aber schlicht und einfach nicht rocken. In der Nacht des „Rockpalast“-Konzerts am 01. März 1985 in der Hamburger „Markthalle“ (das bedauerlicherweise erst um 23.00 Uhr (!!!) begann, weshalb Klein-Holger, immerhin noch ein paar Wochen lang 13, den Besuch dieses (übrigens bald auf DVD aufbereiteten) Auftritts mütterlicherseits leider untersagt bekam ;))), lernten sich Heinz und sein künftiger Mitkomponist und Gitarrero Heiner Lürig erstmals persönlich kennen. Kurz darauf, trafen sich die beiden kreativen Chaoten in Heiners Hannoveraner WG; Heinz zog den Text von „Fallensteller“ aus der Tasche; Heiner hängte sich die Gitarre um – innerhalb von 60 Minuten war der Song in seiner Grundstruktur fertig. Es hatte zwischen den beiden auf künstlerischer Ebene also sofort gefunkt.

Am 23. Juli 1985 besuchte der Verfasser dieser Zeilen sein erstes von bis heute bestimmt weit über 30 Heinz Rudolf Kunze-Konzerten, das inmitten der Sommerferien in der „FABRIK“ zu Hamburg-Altona vonstatten ging. Die von Heinz und seiner „Verstärkung“ dort zelebrierten, zuvor unveröffentlichten neuen Titel, wie gleichsam die unverbrüchlichen Klassiker, von „Sicherheitsdienst“, „Für nichts und wieder nichts“ bis hin zu „Lola“ oder „Liebe im Akkord“ (Gruß an Helene! der Verf.) erklangen ungewohnt und unerwartet laut, rockig, bluesig, poppig - weitaus drastischer, draller, als in den bereits bekannten Studioversionen. Die „Schuld“ daran trug niemand geringeres, als eben Heinz’ neuer Gitarrist Heiner Lürig. Nicht nur der Rezensent, auch manch andere Konzertbesucher an jenem sommerlichen Juliabend in der „FABRIK“, reagierten auf diese musikalischen Veränderungen von erstaunt über skeptisch bis schockiert, was darin gipfelte, daß ein Zuschauer während der Aufführung mehrfach gen Bühne rief: „Wir wollen Mick Franke wieder haben!“ Ich gestehe ein, daß ich ebenfalls eine sehr lange Zeit benötigte, mich an diese neue Weise des Arrangierens gewöhnt zu haben, zumal diese oft übertrieben wurde und gerade 1988 („Einer für alle“) bzw. 1989 („Gute Unterhaltung“) häufig in unglückselige, Mainstream-poppige Untiefen führte, die wohl nicht nur meiner Wenigkeit ganz und gar nicht behagten, dem Künstler aber vollkommen neue Hörerschichten – bis hin zu „BRAVO“-hörigen Teeniemädels – erschloss.

Kunze - Dein ist mein ganzes Herz.jpg Im November 1985 erschien nun also das erste Album des erneuerten HRK: „Dein ist mein ganzes Herz“, das dieser Tage „digital remastered“ neu aufgelegt wurde: Zehn Titel der Original-LP plus neun mit Herz und Seele zusammengetragene Bonus-Tracks.
Hatte sich Heinz auf vorherigen Plattencovern zumeist als in sich gekehrter, verkopfter, verklemmter Intellektueller präsentiert, so wirkte er auf den Bildern zu hier analysierter CD lebensfroh, selbstironisch, ja, geradezu lustvoll, hedonistisch. Standen bei früheren klanglichen Umsetzungen der HRK-Kompositionen stets überwiegend Stimme und Text im Vordergrund, so hatte der viel zu früh verstorbene Topproduzent Conny Plank seinerzeit dafür gesorgt, daß von nun an Stimme, Text, Melodie und Radiotauglichkeit jeweils ein Viertel des gesamten Songs ausmachten.
Ich freute mich damals sehr auf „Dein ist mein ganzes Herz“, mußte allerdings beim ersten Anhören der Scheibe eben ob dieser, bislang unbekannten Vorgehensweise nicht selten schlucken. Nur noch ein einziger Titel aus dieser LP („Väter“) erinnerte an den HRK der Jahre 1981 bis 1984 – eine grazile und dennoch kraftvolle Pianoballade, die dadurch inspiriert war, daß Heinz in den Monaten der Genese des Albums selbst Vater geworden war.

Einer der besten Beiträge auf „Dein ist mein ganzes Herz“ ist Heinz’ „Antwort auf „Born in the U.S.A.“ (Ansage des Titels in o.g. „FABRIK“-Konzert), „Vertriebener“. Eines der wenigen autobiographischen Lieder, die der hochbegabte Verbalanarchist jemals geschrieben hat. Musikalisch druckvoll, eingängig – lyrisch ungeheuer intim, geschichtsträchtig, provokant formuliert, sicher für Menschen, die nicht zwischen den Zeilen lesen können, ggf. missverständlich. Auf jeden Fall einer DER Kunze-Titel, in dem ich mich, hier aus familienhistorischen Gründen, eins zu eins wieder finde (die eifrigen Leser meiner Rezensionen, wissen warum). Zudem stellt „Vertriebener“ einen radikalen, überaus „politisch unkorrekten“ Tabubruch dar: Die linksintellektuelle Szene, die in jener Ära den Hauptteil von HRK’s Publikum ausmachte, hatte für das brisante Thema „Vertreibung“ bekanntlich nur Verachtung, Spott und Häme übrig. Nun wagte es also der radikale Querdenker HRK, die scheuklappenbehafteten 68er-BesserwisserInnen mit dieser Problematik zu konfrontieren. Gut, reaktionäre Kreise versuchten daraufhin, Heinz für sich zu vereinnahmen – aber, ich denke, dieser Titel hat zeitgeschichtlich bestimmt genauso viel bewegt, wie zwei Jahre zuvor Udos „Sonderzug nach Pankow“. Daß eine überzeugte Linke, wie die zeitweilige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer von den Grünen, immer wieder mit Vertriebenenverbänden Kontakt gesucht hat und auf deren Kongressen sprach, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit auch und gerade diesem phantastischen Song zu verdanken.

Ebenso prickelnd und originär: Bereits erwähnter Gitarren-Poprocker „Fallensteller“, der – im Übrigen vollkommen jugendfrei – von einer ruhelosen erotischen Nacht zweier Verliebter berichtet, bevor der Partner seine Liebste für eine längere Zeit verlässt; endend mit der so verschrobenen, wie den wunden Punkt grazil treffenden Textzeile: „Zwei Blindenhunde kreisen umeinander / Es regnet und die Ampeln sind kaputt / Zwei Blinde, die den Angriff überlebten / Umarmen sich und wälzen sich im Schutt“. Ein weiterer Beweis für Heinz’ unübertreffliche Fähigkeit, mit Worten zu spielen, kryptisch genau das auszusagen, was der konventionelle Schlagertexter nur in banalen Phrasen umzusetzen in der Lage wäre.

Zwischen Elton John und Phil Collins, treibt sich „Dies ist Klaus“ herum. Der Polizeibeamte „Klaus“ ist innerlich zerrieben. Ihm, der er im Privatleben mit Friedens- und Anti-AKW-Bewegung sympathisiert, wurde seitens seines Dienstherrn auferlegt, als bezahlter Provokateur linke Demonstrationen aufzumischen, um bei einem anderen Einsatz wiederum mit dem Knüppel auf die Alternative Szene einzudreschen – diese schizophrene Situation schildert Heinz in so einfachen, wie jederzeit nachvollziehbaren Worten, zu einer aufpeitschenden, treibenden Melodie, die sowohl an Eltons „I’m still standing“, als auch an Phils „Sussudio“ erinnert.

Der 08. Mai 1985 spaltete zu Beginn ebenjenen Jahres die Nation. Liberale und Linke begrüßten es, daß der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner polarisierenden, nicht unumstrittenen Rede vor dem Deutschen Bundestag ebenjenen Tag, 40 Jahre zuvor, erstmals aus dem Mundes eines teutonischen Staatsoberhaupts überhaupt, nicht mehr als „Tag der Deutschen Kapitulation“, sondern als „Tag der Befreiung“ bezeichnete. Die Konservativen, ja, ich gebe zu, darunter auch der Rezensent, liefen Sturm – die Linke hatte in Herrn von Weizsäcker, immerhin einem ehemaligen CDU-Politiker, ihr neues Idol gefunden.
Ronald Reagans Bitburg-Besuch und Helmut Kohls teils wirklich tölpelhaftes Verhalten in diesem Zusammenhange, taten das übrige, Heinz zu inspirieren, eine gänsehauterzeugende Mid-Tempo-Ballade unter dem Titel „Madagaskar“ hinsichtlich dieser schwierigen, komplexen Thematik zu schreiben.
Darin geht es um eine unbeholfene Person, die sich einredet, die Nazis hätten Auschwitz ja eigentlich „gar nicht gewollt“ (Textzitat); vielmehr sei es ja angedacht gewesen, die Juden aus Deutschland auszuweisen und eben auf „Madagaskar“ unterzubringen „Schön warm hier / und überhaupt auch viel mehr Platz“ (dto.)… Ein monumentaler Text, der sich von all den unzähligen „Betroffenheitsballaden“ gegen Rechtsextremismus wohltuend abhebt: „Zum Beispiel Madagaskar / Das wär es doch gewesen / Dann wäre DIE GESCHICHTE nicht passiert“ (dto.) – einfach nur Klasse!
Ironie der GESCHICHTE: Der „Bundespräsidentschaftskandidat“ der rechtsextremen NPD 2009 hatte offenbar die wahre Intention von „Madagaskar“ mangels Hirns nicht verstanden und den Text WORTWÖRTLICH aufgefasst, so daß er vor einigen Jahren tatsächlich den Antrag stellte, die Ballade selbst aufnehmen zu wollen, was Heinz’ natürlich dankend ablehnte!

Mit „Du wirst kleiner, wenn Du weinst“ und „Brennende Hände“ befinden sich zudem zwei feudale Liebeslieder auf „Dein ist mein ganzes Herz“; zuvor hatte Heinz, vielleicht von der Ausnahme „Lisa – erwarte keine Predigt“, 1983, abgesehen, kaum emotionale Texte ersonnen. Daß er diese Art von Poesie jedoch genauso gut beherrscht, wie zeitkritische, politische Lyrik, bezeugen ebenjene – gut, fraglos recht schlagerhafte – Titel, die stilistisch irgendwo zwischen Udo Jürgens und Peter Maffay angesiedelt sind.

Ja, und dann der Titelsong vorliegenden Albums… „Dein ist mein ganzes Herz“… Anfang 1986 auf Rang 8 der offiziellen „Media Control“-Charts, direkt neben „Bruce & Bongo“, „Depeche Mode“, den „Pet Shop Boys“ oder Jennifer Rush in den hiesigen Top 10. Wahrlich nicht gerade Heinz’ bestes Opus, aber eben sein erfolgreichstes. Segen und Fluch zu gleich. Letztlich ähnliches, was für den Kollegen Rex Gildo „Fiesta Mexicana“ darstellte. Keine Schlager- und/oder 80er-Party in diesem unserem Lande, die ohne diesen fiesen Ohrwurm auskommt. Das „Lied für Organspender“ (Zitat: HRK, 23.07.85, „FABRIK) nervt auf die Dauer – den Künstler genauso, wie seine ECHTEN Fans. Es ist aber nicht wegzudiskutieren, daß das „Herz“ DER Garant dafür ist, daß Heinz, selbst 2009 noch, immer wieder tausende Zuhörer zu seinen Konzerten anziehen kann.
Lieber Heinz! Du kennst mich, meinen Sarkasmus, mein dialektisches Denken… – und Du bist ja außerdem oft mit Purple Schulz unterwegs… Purples Soloauftritte kommen auch sehr gut OHNE „Verliebte Jungs“ aus und trotzdem beim Publikum an… laß das „Herz“ doch einfach mal bei Deiner nächsten Tour weg… ich denke, Du wirst uns auch ohne diese langsam echt „abgedudelte“ Kardiologen-Nummer voll und ganz von Dir überzeugen können : ))

Die Bonustracks auf der 2009er-Neuauflage von „Dein ist mein ganzes Herz“ haben es in sich. Neben den bislang noch nie auf Silberscheibe bedachten Maxi-Versionen von „Herz“ und „Klaus“ und der (zumindest mich nicht ganz soooo überzeugenden) B-Seite der dritten Auskoppelung, „Fallensteller“, einer ziemlich unsympathischen, leicht wirren Pianoballade namens „Neonröhren“, bekommen wir etwa die – im Frühjahr 1986 aus Single-Zwecken vollkommen neu eingespielte/arrangierte, wesentlich rockiger als im Original umgesetzte – Maxiversion von deren A-Seite zu hören. Ein ultrarares Teil, für das in Vinyl-Form auf Schallplattenbörsen horrende Preise verlangt werden.

Auf seinem 1982er-Album „Eine Form von Gewalt“ befand sich eine weitere „Hymne meines Lebens“ namens „Nachts um halb Drei“. Ein Titel, der seinerzeit sicherlich in aller Form dazu beigetragen hatte, mich selbst als Songschreiber zu versuchen. Bei den Sessions zu „Dein ist mein ganzes Herz“ entstand das treibende (Beinnahe)-Hardrock-Klangdrama „Hamburg um Vier“ – im Grunde genommen, eine Fortsetzung genannten Klassikers, deren Geschichte halt eineinhalb Stunden später stattfand und die Heinz, laut „Liner Notes“, im damaligen Hamburger Etablissement „Zwick“ (das waren noch Zeiten…) selbst miterleben konnte: Ein unglücklicher, einsamer Mann reißt in jenem Wandsbeker Lokal eine wilde, geile Frau auf, treibt es mit ihr auf dem Tisch der Kneipe… verlässt die Location kurz danach und wortlos, und weiß am nächsten Morgen rein gar nichts mehr von alldem. Eine faszinierende, ehrliche Situationsbeschreibung, versehen mit einem sehr offenherzigen, nichts beschönigenden, aber niemals vulgären oder gar flachen Text, der – wäre er damals tatsächlich veröffentlicht worden – seinem Erschaffer mit einiger Sicherheit Probleme mit der allgegenwärtigen „Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Schriften“ eingebracht hätte…
Die Demoversionen von „Dein ist mein ganzes Herz“, „Brennende Hände“ und „Fallensteller“, sowie eine am 9. März 1990 in der „Ostseehalle Kiel“ aufgezeichnete, gitarren- und bläserverstärkte, im Tempo angezogene Rockfassung des legendären „Vertriebenen“, beenden die CD-Neuauflage von „Dein ist mein ganzes Herz“, einer LP, die ohne Frage eine Zäsur in Heinz’ musikalischem Leben darstellte, aber eindeutig und unverbrüchlich deutsche Rockgeschichte geschrieben hat – und deren Reanimierung Heinz, Heiner und ihren Mitarbeitern zweifellos Eins A gelungen ist.

Auf diesen unerwarteten Erfolg hin, mußte natürlich in Bälde ein weiterer super Meilenstein im Hause Kunze ausbaldowert werden. Zwar wurden 1986 noch „Dies ist Klaus“ (März) und „Fallensteller“ (Juni) aus „Dein ist mein ganzes Herz“ als Singles ausgekoppelt – im Hintergrund arbeitete man jedoch bereits sehr intensiv am neuen Album „Wunderkinder“. Laut „Liner Notes“ zur CD-Neuauflage, gab es zunächst ziemlichen Ärger diesbezüglich mit Conny Plank, der sich auf eine mündliche Vereinbarung berufen hatte, er habe die Beauftragung, auch „Wunderkinder“ zu produzieren. Dies wollten aber Heinz und seine „Verstärkung“ diesmal alleine durchführen. Man einigte sich auf einen Vergleich mit Conny und legte los. Im Herbst 1986 erschien also dasjenige Album, welches bei Heinz’ Anhängern bis heute als DIE „Kult-Scheibe“ schlechthin gilt, produziert von Gitarrist Heiner, Schlagzeuger Peter Miklis und HRK himself. Eine grandiose Songkollektion, die mit radiokompatiblem Material ebenso aufwartet, wie mit vertrackteren, „schrägeren“ Stücken.
Der kongeniale Titelsong durchstreift, mit „stechenden“ Worten und einer jederzeit mitsingbaren Melodie ausgestattet, die deutsche Nachkriegsgeschichte von 1945 bis 1986… „Ja, die Russen waren böse / und die Amis waren gut / insgeheim war man noch Nazi / doch da fehlte ein bisschen Mut…“ (Textzitat)… ein Lied, das HRK als verkappten Historiker zeigte, ohne oberflächlich oder – wie ihm häufig vorgeworfen wurde – „oberlehrerhaft“ zu erscheinen.

Einer meiner speziellen Favoriten aus dieser phänomenalen LP ist und bleibt „Das All ist Deutsch“: Jahre, bevor die UFO-Hysterie Dank zweifelhafter, einschlägiger Privatsender-Serien dieses unser Land heimsuchte, parodierte Heinz ein solches Denken in diesem famosen Pop/Rocker einfach herrlich: „36 Bilder von Bielefeld bei Nacht“ (Textzitat) schoß der Schwager des Lied-Ichs mit seiner Kamera, nachdem er angeblich Außerirdische in jener nordrhein-westfälischen Mittel-Großstadt angetroffen hatte… doch: „Perfekte Tarnung / Auf Photos sieht man sie nicht“ (dto.) – genau damit führte HRK den UFO-Wahn mancher Bundesbürger spitz und spritzig ad absurdum. „Mein Schwager war nicht betrunken / er war bestimmt nicht von Sinnen / er sagt / wir könnten mit ihnen / den Dritten Weltkrieg gewinnen“… und dann Heinz „wo-how“ – alleine dieses zynische, ätzende „wo-how“ trägt mehr Ehrlichkeit, Überzeugungskraft und Echtheit in sich, als 25 friedensbewegte Betroffenheitsballaden jener Tage zusammengenommen.

Die erste Singleauskoppelung aus „Wunderkinder“, der (zu) poppige Edelschlager „Mit Kunze -Wunderkinder.jpgLeib und Seele“, sollte sicherlich in kommerzieller Hinsicht ein Nachfolger des „Herzens“ werden… zog im September aber nur in den Rundfunkcharts auf Rang 10 ein; die Verkaufshitparaden blieben von dieser reinen Selbstkopie jedoch verschont.

Track 4 von „Wunderkinder“ und zugleich zweite Singleauskoppelung ist mal wieder ein „Hit des Lebens“ des Verfassers dieser Zeilen. „Finden Sie Mabel“ – von Heinz gerade erst vor wenigen Wochen auf seinem Klasse Konzert in der Hamburger „Großen Freiheit 36“ mal wieder im Live-Gewand dargeboten – basiert auf der Romanfigur „Philipp Marlowe“, einem umtriebigen Privatdetektiv, den der US-amerikanische Literat Raymond Chandler in den 40er Jahren erfand – und es damit, trotz aller seiner Depressionen, zu Weltruhm brachte.
Es geht in diesem blues-infizierten, rasanten Countryrocker um ein devotes, blindverliebtes Lied-Ich, das Herrn „Marlowe“ anfleht, seine abtrünnige, geliebte Traumfrau „Mabel“ zu finden. „Sie hat mein Leben zerstört / Doch ich hab endlich gemerkt / ich bin weich / sie hat mein Herz durchgebracht / Doch jeder Scheck / den sie nimmt / macht mich reich“… Unglaubliche Textzeilen, die eine total tiefe Liebe und Verehrung für eine von vornherein unerreichbar nahe Frau beschreiben – ein Text, den man/n vielleicht nur dann wirklich in sich einsaugen kann, wenn man ebenjene Gefühle selbst schon mal erlebt hat… (Herr „Marlowe“, wo hält sich eigentlich in diesen Stunden Allessa auf??; bitte um umgehende Benachrichtigung! der Verf. ;)))
Übrigens der erste HRK-Titel, auf dem eine, ansonsten überwiegend nur im Country-Bereich eingesetzte Pedal Steel Gitarre zum Zuge kam; eingespielt von Martin Huch, der daraufhin einige Jahre lang zum festen Trupp von Heinz’ „Verstärkung“ zählte.

Aus der Sicht eines bereits bei seiner Geburt zum baldigen Sterben verurteilten Versuchstieres, beschreibt Heinz präzise und gefühlvoll dessen Situation kurz vor seiner wissenschaftlich begründeten Tötung in der dunklen Synthiballade „Kadaverstern“; die gehetzte, nervöse, Gitarren-meets-Bläser-Klangorgie „Ganz nah dran“ versucht, die so erregten, wie (dadurch verursacht) positiv verwirrten Gedanken und Gefühle eines Mannes, kurz vor dem sexuellen Höhepunkt, auf den Punkt zu bringen.

Einer von Heinz’ eigenen Lieblingstiteln ist der brodelnde Schleicher „Die Sprache, die sie verstehen“ – ein mit viel Liebe zum Detail „gesungenes Mitgefühl“ mit den Bewohnern von Nicaragua und – ja, oft missinterpretiert – angereichert mit sachtem Verständnis für Waffengewalt der Bevölkerung gegen die Intervention der „Contras“ von der US-Armee. Letztlich klangliche Zeitgeschichte, von Heinz & „Verstärkung“ unter die Haut gehend umgesetzt.

Auf radikal sarkastische Art und Weise mit Korruption und Ämterpatronage setzt sich, musikalisch im Ska-, Reggae- und Popumfeld angesiedelt, „In der Lobby brennt noch Licht“ auseinander – 2009, zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise, aktueller denn je.
Mit den beiden letzten Titeln von „Wunderkinder“ konnte ich dagegen nie besonders viel anfangen. Hierbei handelt es sich um den rasenden Funkrocker „Der Schlaf der Vernunft“, dessen Text ich bis heute nicht verstanden habe, sowie um die viel zu schnulzige Ballade (und dritte Singleauskoppelung) „Ich brauch Dich jetzt“ – die Reime derer wirken gezwungen, konstruiert; die Melodie ausschließlich auf Radiotauglichkeit und Massenkompatibilität ausgerichtet.

Als Bonustracks koppelten Heinz und Heiner den zehn Original-Songs von „Wunderkinder“ die knapp fünfminütige „Pseudo-Live-Version“ („Liner Notes“) des Titelsongs, die Maxi-Fassung von „Mit Leib und Seele“, sowie eine englischsprachige Auslegung von „Finden sie Mabel“ hinzu.
Konzertmitschnitte von „Das All ist Deutsch“, dem oben ausführlich beschriebenen Phillip-Marlowe-Liebesdrama und „Ganz nah dran“, sowie die ursprünglich angedachte, dann aber von der Plattenfirma abgelehnte Langversion von „Ich brauch Dich jetzt“ vervollständigen die CD-Neuedition eines Albums, das HRK auf der Spitze seines (kommerziellen) Erfolges zeigt, wahrhaft bahnbrechende Songs beinhaltet, aber auch den Weg hin zu radiotauglichem Ex-und-Hopp-Pop einleitete.

Dieses unglückselige Experiment wurde 1991 gottlob mittels des hervorragenden Opus „Brille“ konsequent beendet. Die aktuellen Wiederveröffentlichungen von „Brille“ und „Kunze: Macht Musik“ als „Remastered DeLuxe Edition“ stelle ich in Bälde an dieser Stelle ausgiebig vor!
Gesamtnote – „Dein ist mein ganzes Herz“ 1
Gesamtnote – „Wunderkinder“ 1

Heinz Rudolf Kunze „Brille“ (Remastered DeLuxe Edition) „Kunze: Macht Musik“ (Remastered Deluxe Edition)

(Holger Stürenburg, 22./23. Mai 2009)

Ende der 80er Jahre schien es manchem interessierten Beobachter so, als verfiele der begnadete Deutschrocker und Wortakrobat HEINZ RUDOLF KUNZE schonungslos dem massenkompatiblen Radiopop. Die lauen Produktionen „Einer für alle“ (1988) und „Gute Unterhaltung“ (1989) boten mehr Schatten als Licht, und nicht wenige Texte ließen die vorherige Bissigkeit und Trefflichkeit des studierten Germanisten/Philosophen HRK missen; auch traten (gesellschafts-)politische, kritische Ausführungen unverzeihbar in den Hintergrund.
Herr Kunze hatte mit dieser kommerziell zwar durchaus rentablen, qualitativ aber überaus fragwürdigen Vorgehensweise auch bei einem Beinhart-Fan, wie dem Verfasser dieser Zeilen, deutlich an Faszination und Überzeugungskraft eingebüßt.
Hätte er diesen Weg weiter beschritten, hätte er soundsoviele langjährige Anhänger verstoßen, wäre er zwar vielleicht in den Genuß des einen oder anderen „BRAVO“-Starschnitts gekommen, hätte aber Dank dieses Tuns leicht als „Mathias Reim für Gymnasiasten“ stranden können.
So MUSSTE letztendlich die Wende zurück zu DEM Kunze gefunden werden, den wir bis 1986/87 so liebten und schätzten. Der erste Schritt dorthin nannte sich „Brille“, erschien im Frühjahr 1991, rockte teilweise wieder ganz schön drauflos, beinhaltete zudem veritable experimentelle Elemente; HRK’s altgewohnte lyrische Genialität wurde wiederum deutlich – und selbst die radiokompatiblen (Single-)Titel bewiesen hohes Niveau und sympathische Bodenständigkeit. Heinz hatte mit „Brille“ dem vergänglichen „Middle of the Road“-Pop zum Glück endgültig Lebewohl gesagt – und das war auch gut so!

„Brille“ kam nun vor kurzem, wie gleichzeitig die bereits an dieser Stelle analysierten Scheiben „Dein ist mein ganzes Herz“ (1985) und „Wunderkinder“ (1986), als „Remastered DeLuxe Edition“ bei Heinz’ früherer Plattencompany Warner Music Group rundherum erneuert auf den Markt. Heiner Lürig, sein langjähriger Gitarrist/Komponist, peppte die elf Titel des Originalalbums klanglich auf und fügte diesem Repertoire fünf ganz und gar nicht unspannende Bonus-Titel hinzu.

Es war eine reine Freude, als die durch „Einer für alle“- und „Gute Unterhaltung“-geschädigte Fangruppe, zu denen sich auch der Rezensent zählte, damals die ersten Takte des Eröffners von „Brille“ vernahm: Dezent an Glam Rock bzw. frühe „Roxy Music“ gemahnend, dröhnten die Gitarren wie junge Götter, erklang eine nette, total zum musikalischen Kontext passende Jahrmarktorgel; ein treibendes Schlagzeug trieb die temporeiche Melodie voran – inhaltlich wurde wiederum ätzende Zeitgeist-Kritik geübt; der Künstler brillierte mit so phantastischen Sätzen, wie „Wenn das hier schon das Leben ist / was machen dann die Toten? / Wer kennt sich hier aus / Wer hilft mir hier raus / Aus der Verschwörung der Idioten?“
„Die Verschwörung der Idioten“ leitete eine Produktion ein, die einen guten Startschuß abgab, für die Reanimierung des ORIGINÄREN Heinz Rudolf Kunze.

Kunze- Brille.jpgTrack 2 von „Brille“ gilt bis heute als einer DER Live-Klassiker schlechthin und ertönt seit seinem Entstehungsdatum auf nahezu jedem HRK-Konzert: „Wenn Du nicht wieder kommst“, ein wiegender, schneller Boogie/Rock’n’Roll-Ohrwurm bester Güteklasse; ein dralles Liebeslied, das von einem Mann berichtet, der sich nichts sehnlicher wünscht, als daß seine Große Liebe, den Beschluss, ihn verlassen zu haben, revidiert, und eben möglichst bald „wiederkommt“.
Die dreiköpfige, aus Irland stammende Bläsersektion „The Rumour Brass“, die zuvor mit Koryphäen der Sorte Graham Parker, „The Clash“, „Katrina & the Waves“ oder Shakin’ Stevens gespielt hatte, veredelte gerade diesen Titel durch ihr fettes Gebläse – und verleiht diesem Ewigkeitshymnus dadurch einen ganz besonderen Charme.
Bis heute ist es Tradition, daß bei Kunze-Auftritten, sobald die Band nach dem Hauptteil des Programms die Bühne verlassen hat, die begeisterten Fans nicht etwa nur banal „Zugabe, Zugabe“ rufen, sondern stattdessen lauthals anstimmen: „Wenn Du nicht wiederkommst / Wenn Du nicht wiederkommst“!
Einige der Textzeilen aus dem Evergreen hatten seinerzeit, im Frühjahr 1991, für den Rezensenten und dessen damaligen Lateinkurs eine spezielle Bedeutung. Unsere Lateinlehrerin, Frau Murati (Gott hab sie selig!), befand sich wegen einer Krebserkrankung auf Kur – und wurde durch einen nicht gerade mitreißenden Vertretungslehrer ersetzt. So sangen wir gerne mal „Mein Latein ist am Ende / Frau Murati (im Original: „mein Verstand“) ist auf Kur“… und flehten geradezu nach ihr: „Wenn Du nicht wieder kommst“…

Als „eine Ballade, die keine ist“, wird im CD-Beiheft die wundervoll überzeichnete, 50er-Jahre-angehauchte, wiederum bläserverstärkte Schlagerparodie „Alles gelogen“ vollkommen zutreffend bezeichnet. Ein alterndes Ehepaar lebt sich zunehmend auseinander… ER, leicht devot geprägt, macht ihr immer wieder Komplimente, die zur Routine erstarrt sind – bis er eines Tages aufsteht und ihr radikal ins Gesicht sagt, daß dies doch eigentlich „Alles (nur) gelogen“ war, all die vielen, vielen Jahre lang… bis beim letzten Refrain der Chor das ganze Gefühlsspektakel perfektest konterkariert. Denn nun heißt es auf einmal: „Alles gelogen / All diese Jahre / DIE VOR UNS LIEGEN“ – was schlußendlich bedeutet, daß er sie, trotz aller Widrigkeiten, niemals mehr wird loslassen können. Ein phantastischer Plot, von HRK in so grazilen, sensiblen, wie stechenden, sarkastischen Worten hervorragend lyrisch umgesetzt.

Mit dem, vermutlich vom damaligen Irak-Krieg geprägten „Kriegstanz“ konnte ich niemals viel anfangen. Der zweifellos gelungene Text, geschrieben aus der Sicht eines brutalen Militärs/Feldherrn, wird untermalt von einem kaum als Melodie erkennbaren, dröhnendem, bedrohlichen schlagzeug-/percussion-Gewitter, das durch kreischende E-Gitarren noch verstärkt wird – ganz persönlich, hielt ich dieses Klangdrama von jeher für einen ungemütlichen, stilistischen Bruch im ansonsten doch so stimmigen Konzept des hier vorgestellten Albums. Mich erinnert diese Drastik, Radikalität und letztlich „Unmusikalität“ des „Kriegstanzes“ einwenig an „Desire“ von „U2“ – auch mit diesem, klanglich ähnlich inszenierten „Lärm“, konnte ich mich, obwohl bekennender Fan von Bono & Co., zu keinem Zeitpunkt jemals anfreunden.
Für „Kriegstanz“ gilt m.E.: Textlich TOP – Musikalisch FLOP.

Der knapp siebenminütige Titelsong von „Brille“ ist mal wieder sehr autobiographisch geprägt. Er erzählt über Heinz’ Jugend in den 60er Jahren, über die Schwierigkeiten eines recht unansehnlichen „Brille“nträgers, der ob seiner Hochbegabung, seines frühen Interesses für Literatur und Rockmusik, seines Wunsches, Dichter zu werden, bei seinen Mitschülern, Lehren, allgemein bei vielen Menschen der Gattung „Otto Normalverbraucher“, nicht gerade beliebt ist, sich von denen unverstanden fühlt. Daher redete sich der pubertierende Heinz auf Rat seines Vaters ein: „Du mußt besser sein, Brille / Besser als der Rest“ (Textzitat).

Doch zum Schluß dieser sehr intimen, fragilen Mid-Tempo-Ballade wendet sich das Blatt: Heinz hat es ja unwiderruflich vermocht, seine, ihn damals hänselnden, verspottenden Schulkameraden in Sachen Intellekt, Reputation und Erfolg um ein Vielfaches zu übertreffen… „Die anderen geh’n zur Bundespost / Er kämpft mit der Gitarre / Wenn er sie auf der Straße trifft: Ein Hauch von Leichenstarre“…“Du bist besser dran Brille… Die anderen schon scheintot / Du springst aufs Podest – Du bist besser dran, Brille / Besser, viel besser / als der Rest!“ Nicht wenige der in diesem fulminanten „Seelen-Striptease“ geschilderten Situationen und Erlebnisse hat der Verfasser dieser Zeilen, wenn auch zehn, 15 Jahre später – letztlich bis heute – auch erleben dürfen.

Auf den munteren, textlich überwiegend philosophisch gehaltenen Gitarren-Pop/Rocker „Was wirklich zählt“ – ein nettes, aufmunterndes (Liebes-)Lied, sicherlich nicht Heinz’ schlechteste Nummer, aber garantiert auch nicht sein Meisterwerk - folgt „unser Arztroman in viereinhalb Minuten“ (Zitat: HRK), „Doktor, Doktor“, musikalisch „Wenn Du nicht wiederkommst“ nicht unähnlich: Ein von „The Rumour Brass“ straight nach vorn getriebener, Good-Time-Rock’n’Roller, komponiert von Heiner Lürig, der hier seine Vorliebe für den britischen Gitarrenhelden Dave Edmunds unverhohlen auslebt – und dies auf absolut Klasse Niveau.

Bei Heinz’ Anhängerschaft noch 2009 immens begehrt und gefragt ist die leicht Dylaneske, schottisch/irisch ausgestaltete Folkballade „Der Abend vor dem Morgen danach“ – ein wunderschöner, hochemotionaler Text, verbunden mit einer zwar ungewöhnlichen, aber jederzeit sympathischen Melodie – falls HRK diesen tollen Titel immer wieder mal in seine Tourneerepertoires einbaut, brandet, gerade hier, ein besonders lauter Jubel seitens der Zuhörer auf.

Dem Tabu-Thema „Vergewaltigung“ ist der außerordentlich gelungene, lyrisch eigentlich unübertreffliche Gitarrenrocker „Tausendschön“ gewidmet. Heinz’ schildert hierin aus der Sicht eines imaginären Beobachters all die ekelerregenden Demütigungen, die eine Frau während perverser sexueller Übergriffe durch einen schrankenlosen Kriminellen erleiden muß, in zerbrechlichen, äußerst gewählten, verständnisvollen Worten – sicherlich, hinsichtlich seiner Ausformulierung, der anspruchsvollste, gleichsam ergreifendste Beitrag auf „Brille“.

In der über sechsminütigen, vertrackten Klangkaskade „Stirnenfuß“ treffen ein skurriler, abstrakter, versponnener, positiv chaotischer Text und eine gitarrenbetonte, wiederum leicht folkige, erst sanfte, dann konsequent rockige, rasende – im positivsten Sinne des Wortes – „Nicht-Melodie“ kongenial aufeinander – zwar nicht hitkompatibel, aber seit damals ein weiteres Liebhaberstück von Heinz’ engsten Freunden; ein Geheimtip, der zugleich als Titelgeber für das sehr gelungene und informative Buch des Kollegen Holger Zürch, „Silbermond samt Stirnenfuß“ (Engelsdorfer Verlag – ISBN 3-938873-21-0) fungiert, das dieser im Jahre 2005 über HRK schrieb (und in dem auch der Rezensent mit einem Beitrag vertreten ist).

So, wie man „Brille“, den Titelsong vorliegenden Silberlings, durchaus als „Fortsetzung“ von „Vertriebener“ (1985) betrachten könnte, so schließt die bebende Pianoballade „Der alte Mann“, dialektisch gedacht, direkt an „Madagaskar“ (dto.) an. Hierin geht es um einen verbitterten Kriegsverbrecher, der nach 1945 in Südamerika abgetaucht ist, sich selbst und den Rest der Welt einfach nur hasst – der aber immer wieder (und zunehmend mehr) Post von seinen „Fans“, ergo: geschichtsvergessenen Neonazis, aus der BRD erhält. Ein Titel, der gerade derzeit, hinsichtlich der Causa „John Demjanjuk“, brennende, gleißende Aktualität genießt.

Die Demofassungen von „Doktor, Doktor“ und „Alles gelogen“, sowie Konzertmitschnitte des „Abends vor dem Morgen danach“, des „Alten Herrn“, sowie des rockigen „Arztromans“ beschließen als Bonustracks eine superbe CD-Neuauflage eines Opus, mit dem Heinz 1991 die Notbremse zog, um nicht einst auf dem „Sommerfest der Volksmusik“ sein Stelldichein geben zu müssen. „Brille“ war ein Schritt zurück nach vorn, der zig unzweifelhafte Deutschrock-Perlen in sich trägt und im Grunde genommen denjenigen HRK (wieder)gebar, der uns 2009 immer noch und weiterhin in die selbe Ekstase versetzt, wie er es von 1981 bis 1987 getan hatte!

Eine persönliche Anmerkung möchte ich, bevor ich mich der ausführlichen Analyse der vierten und (vorerst!) letzten Wiederveröffentlichung meines großen Vorbildes HRK hingebe, an dieser Stelle schon proklamieren. Das soeben ausgiebig beschriebene HRK-Album trägt den Titel „Brille“.
Der Verfasser dieser Zeilen trägt ebenfalls eine solche. Die Songtexte und die durchgehend mehr als nur lesenswerten „Liner Notes“ sind im CD-Beiheft in einer derart winzigen Schrift abgedruckt, daß es „Brillenträgern“ enorm schwer fällt, diese überhaupt zu entziffern. Die vier „Remastered DeLuxe Edition“-Neuauflagen kosten 15 bis 20 Euro, es sind also Produktionen, die in den „High Price“-Bereich fallen und keine Budget-Sachen, die ich immer wieder mal für SONY konzipiere und die für rund zehn Euro erhältlich sind. Nach der intensiven Beschäftigung mit bislang drei CD-Neuauflagen von HRK, tun mir meine Augen extremst weh, ob der Minischrift im Booklet. Für knapp 20 Euro, so denke ich, kann der Konsument erwarten, daß er sich keine Lupe kaufen muß, um die Texte schmerzlos lesen zu können.
Liebe Katalog-Kollegen bei WARNER: Ich möchte mit diesem Intermezzo einfach nur Solidarität mit denjenigen Menschen üben, die, wie ich, keine gesunden Augen (mehr) haben. Bitte achtet doch künftig, gerade bei „High Price“-Themen, darauf, daß die Schrift in den Booklets problemlos lesbar ist : )))

So, nun genug gejammert – auf geht’s zu einem wahrhaft monumentalen Rockklassiker namens „Kunze: Macht Musik“. Ein Jahr nach „Brille“, war Heinz’ Pop-Phase gottlob endgültig vorbei, was die krosse Gitarren-Scheibe „Draufgänger“ im Herbst genannten Jahres mittels radikaler, dröhnender Hardrock-, gar Punk- und Bluesklängen eindrucksvoll belegte.
Im August und September 1993 gingen die Musiker der „Verstärkung“, gemeinsam mit ihrem Vordenker und Vorsänger HRK, ins Studio und spielten „Kunze: Macht Musik“ ein, eine grandiose Produktion, die es im Frühjahr 1994 bis auf Rang 10 der offiziellen „Media Control“-Charts schaffte und auf der sich Heinz und seine Begleiter – übrigens letztmalig in dieser Besetzung – musikalisch, wie textlich gnadenlos austobten, ohne irgendwelche Kompromisse mit dem Mainstream einzugehen.
Auch dieser Meilenstein teutonischer Rockkultur wurde nun als „Remastered DeLuxe Edition“ neu aufgelegt. Den 13 Titeln der Urversion haben die Verantwortlichen sechs, bislang unveröffentlichte Bonus-Titel hinzugefügt.

Eigentlich sollte die CD zunächst ja „Tohuwabohu“ getauft werden (vgl. Track 13) – daKunze macht Musik.jpg aber der Ostberliner Musiker Andre’ Herzberg (Ex-„Pankow“) zur selben Zeit ein so betiteltes Opus vorgelegt hatte, entschied man sich für „Kunze: Macht Musik“ – ein diabolisches Wortspiel, das zweifach interpretiert werden kann. Zum einen vermittelt es den wortwörtlichen Eindruck, nämlich, daß es nun mal der Beruf HRK’s ist, Musik zu machen – andererseits könnte man aus dieser Titelwahl gleichermaßen herauslesen, daß „Musik“ nicht selten auch „Macht“ besitzen, ausstrahlen könnte.

Das Album beginnt mit dem trotzigen, brodelnden, psychedelisch ausgerichteten, von fetten Gitarrenorgien und ebensolchen am Schlagzeug lebenden, Anti-Liebeslied „Was willst Du“, das vertrackte Rocksounds der ausgehenden 60er mit Alternative-Schiefklang der 90er kongenial verbrüdert.

„Sex mit Hitler“ – alleine der Titel sorgte für Verwirrung, wenn nicht gar für einen kleinen Skandal. WARNER weigerte sich beharrlich, den vielleicht zynischsten Titel, den Heinz jemals ersonnen hat, als Single auszukoppeln; der Bayerische Rundfunk setzte „Sex mit Hitler“, nur wegen seiner, zugegebenermaßen missverständlichen Benamung, umgehend auf den Index – ohne sich jedoch näher mit der Geschichte eines fiktiven Strichjungen auseinanderzusetzen, den Adolf gebucht hatte, um seine perversen Lüste auszuleben. Eine rockige, eingängige, wenngleich durchwegs düstere Gitarrennummer, deren Inhalt damals leider viel zu wenig diskutiert, sondern ausschließlich tabuisiert wurde.

Die gemächliche, nur hintergründig rockende Emotionsballade „Leg nicht auf“ wurde als erste Single ausgekoppelt und erwuchs zu einem kleinen Hit für HRK, der den Rezensenten jedoch nie so ganz überzeugen konnte – Dies stellte kaum anderes dar, als „Dein ist mein ganzes Herz“ im brachialen „Bon Jovi“-Stil… m.E. der schwächste, wenn auch kommerziell einträglichste Beitrag auf „Kunze: Macht Musik“.

Ja, mit „Fetter, alter Hippie“ etablierte sich HRK endgültig als „Botho Strauß des Rock’n’Roll“ (© Holger Stürenburg – und sonst niemand!). Es war damals die Zeit, als sich soundsoviele einst als „Links“ bezeichnete kulturelle Vertreter der 68er-Generation – von Wolf Biermann, Cora Stephan über Klaus Rainer Röhl und Karin Struck bis hin zu Martin Walser oder eben Botho Strauß – erstmals Gedanken machten, ob Sexuelle Revolution und Marsch durch die Institutionen tatsächlich so einfallsreich waren, wie bis dahin dogmatisch geglaubt. Biermann etwa wurde „Welt“-Kolumnist und sang auf der Kreuther Fraktionssitzung der CSU, Frau Struck, einst DKP-Mitstreiterin, erwuchs auf einmal zur strikten Abtreibungsgegnerin, Röhl wechselte ins nationalliberale Lager, Frau Stephan schrieb das wegweisende Buch über den „Betroffenheits-Kult“ der 68er, Walser und Strauß boten sich ab sofort als weder „linke“, noch „rechte“, Querdenker jenseits aller verquaster Ideologien an. Das damalige Noch-SPD-Mitglied HRK spottete verächtlich, musikalisch im Stile von Lenny Kravitz, per Wah-Wah-Gitarre etc., gegen den „Fetten, Alten Hippie“ (Songtitel) – wiederum ein Kunze-gemäßer „Tabubruch“, da nicht wenige seiner Anhänger eben nichts anderes waren, als „Fette, Alte Hippies“.
„Deine Väter und Mütter / waren besser als Du / ihre Selbsthäkeldeckchen überleben Dich / um Längen… Du verdienst kein Mitleid / Fetter, alter Hippie“ (Textzitate). Dem ist m.E. nichts hinzuzufügen.

Es folgt das vermutlich genialischste „Anti-Liebeslied“ der deutschen Rockgeschichte: „Eigentlich nein“ – ein draller, krasser Hardrocker, in dem sich der Rezensent – wie so oft bei Kunze – intimst wieder findet. Ein Lied für emotional oft enttäuschte Menschen, die sich irgendwann mal wieder unglücklich verlieben – und Dank dieses Meisterwerks aus sich herausgehen und einfach nur brüllen können: „Ich mag Dich / Wer bin ich? / Will ich hier sein? – Eigentlich nein!!! Eigentlich nein!!! Eigentlich nein!!!“. Danke, lieber Heinz, für dieses persönliche „Überlebensmittel“, das mir nicht selten bei unwillentlich ausbrechendem „Gefühlschaos“ sehr geholfen hat!

Eine ruhige, versöhnliche, wenn auch lyrisch recht abstrakte Mid-Tempo-Folkballade unter dem Titel „Keine Umkehr mehr“ wurde nach eben analysierter „Liebe/Haß/Liebe-Ambivalenz“ auf „Kunze: Macht Musik“ berücksichtigt, bevor mal wieder der Ironiker HRK zum Zuge kommt: „Einfacher Mann“ stellt eine perfekte Parodie auf den sprichwörtlichen „Spießer“ dar: „Mein Vater war ein Wandersmann / Er kam bis Wladiwostok / Ich kenn’ mich aus auf Capri / aber, wo liegt eigentlich Rostock?“… Trefflich die Finger in die offene Wunde legend, beschreibt HRK, kritisch, aber niemals verletzend oder gar mit erhobenem Zeigefinger, eine Spezies von scheinbar unbelehrbaren Menschen, von denen heute leider immer noch so viele Exemplare durch die BR Deutschland laufen, wie zum Entstehungszeitpunkt des brillanten Rocksongs, der als zweite Singleauskoppelung diente.

Das inhaltlich abstrakte „Freier Fall“ und die romantische Liebeselegie „Du gehörst zu jemand anderem“ leiten über zu einem weiteren Grund dafür, weshalb ich Heinz seinerzeit als „Botho Strauß des Rock’n’Roll“ apostrophiert hatte. „Hereinspaziert“, musikalisch unüberhörbar an die britische Punk-/New Wave-Legende „The Jam“ angelehnt, lässt die Hysterie der Bundesdeutschen Veröffentlichten Meinung und nicht weniger, ansonsten unpolitischer „Normalbürger“ 1992/93 zugespitzt Revue passieren, als überall in der Republik, ob Ost, ob West, glatzköpfige Chaoten – die soooo superdeutsch sind, daß sie sich „Skinheads“, statt „Hautköpfe“ nennen – meinten, brandschatzend durch dieselbe ziehen und widerliches Unheil anrichten zu müssen.
HRK gelingt es in diesem fulminanten, schnellen Beinahe-Punk-Rocker, einerseits eindeutig das braune Pack zu verdammen, zugleich aber, sich überaus kritisch über die aktionistischen Schnellschüsse der „Gutmenschen“ in diesem unserem Lande lustig zu machen.
„Der betroffene Rocker / macht Musik aus dem Bauch / Riecht verdächtig nach Blähung / und so klingt es dann auch / Die beamteten Denker / Ratlos Postmodern / Über’m Herzen der Schwachen / glimmt ein gelblicher Stern / Eimerweise in Talkshows / fließen Krokodilstränen / Und die Werwölfe lachen sich scheckig / und gähnen“.
In gerade mal 3.00 Minuten Laufzeit von „Hereinspaziert“ steckt mehr Zeitgeist-(Verachtung), als in soundsovielen, dicken Besserwisser-Büchern der obligatorischen „Berufsantifaschisten“ – einfach nur Klasse : )

Ruhig, zugleich auflodernd, entflammend, aufbrausend, erklingen nun die mystischen, melancholischen Schleicher, stets mit klanglichen Widerhaken versehen, „Der Mann, der zu atmen vergaß“, sowie „Goethes Banjo“ – mehr Klangdrama, als Ballade. Letzterer Fanfavorit erzählt über einen Mann, der in seinem sexuellen Leben alles ausprobiert hat – aber niemals die echte Befriedigung erfahren durfte. So legt er sich in die brütend heiße Sonne in die Wüste Afrikas, um ebenjene erstmals überhaupt erleben zu können – HRK dazu im (mal wieder für „Brille“nträger unlesbaren „Liner Notes“: „Der einsamste Mensch der Welt. Das ist eine Sexualität, die er nur mit der Sonne und sonst niemandem teilt. Da musste ich was drüber machen“.

Mit „Tohuwabohu“, einem weiteren, der wenigen autobiographischen Liedern von Heinz, endet „Kunze: Macht Musik“. Er schildert darin, gekonnt zugespitzt, absurde Erlebnisse aus seiner Jugend und Schulzeit in den wilden 60er Jahren. Untermalt von einer lieblichen Gitarrenmelodie, kommen hierin so geniale Textzeilen der Sorte „In nichts war ich gut / außer in Angst / Das kann man nicht lernen / Das hat man“ oder „Mein bester Freund / verließ mich für meine erste Freundin / Einen langen Moment war ich sicher / das sei nicht wieder gut zu machen / Er dauert noch an“ vor – Dieser so außergewöhnliche, wie intime Titel inspirierte mich dazu, 1995/96 eine, ähnlich ausgerichtete, eigene Nummer namens „Mein persönliches Tohuwabohu“ zu schreiben, die bislang allerdings nicht veröffentlicht wurde.

Kurz zu den Bonus-Tracks: Da „Radio Schleswig Holstein“ (RSH) nicht der Bayerische Rundfunk ist, durfte Heinz dort im Rahmen einer Rundfunksession „Sex mit Hitler“ ebenso „unplugged“, mit geringster Instrumentierung, darbieten, wie „Fetter, alter Hippie“ und „Leg nicht auf“ – alle drei Radiomitschnitte wurden nun dem Originalalbum hinzu gekoppelt.
Im pseudoromantischen Schlager-/Chansonambiente erklingt die bisher unveröffentlichte Ballade „Wenn der and’re geht“; eine Reggae(!)-Fassung des „Einfachen Mannes“ sowie „Leg nicht auf“ auf Englisch als „Don’t hang up“ vervollständigen die „Remastered DeLuxe Edition“ von „Kunze: Macht Musik“.
Im Anschluß an die dazugehörige Tournee, tauschte Heinz, mit Ausnahme von Mastermind Lürig, die gesamte Mannschaft der „Verstärkung“ aus, da sich die bisherige Formation seit über acht Jahren einfach „auseinander gespielt“ hatte.

„Kunze: Macht Musik“ ist ohne jegliche Frage ein absolutes Meisterwerk, sowohl in musikalischer, als auch lyrischer Hinsicht. Pop für die Massen war Geschichte, nun betrieb das langjährige sprachlich/rhetorische/gedankliche Vorbild des Verfassers dieser Zeilen wieder genau dies, was er – und nur er selbst - wollte. Zwar reduzierte sich nun der kommerzielle Aspekt auf das nötigste, aber Heinz war ENDLICH wieder er selbst. Alleine dafür: Hut ab!

Gesamtnote – „Brille“: 1-2
Gesamtnote – „Kunze: Macht Musik“ Bestwertung

Quelle : http://www.foxwahn.de
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Re: 28* HRK-Remaster Projekt (2009)

Beitrag von An »

Mittlerweile hat Amazon den Preis für die Box ein weiteres Mal gesenkt: er liegt jetzt bei 37,40 €. Allerdings haben die einzelnen CDs ihren relativ hohen Preis behalten.
S.N.O.W.
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von S.N.O.W. »

Mecki hat geschrieben:Eigentlich sollte die CD zunächst ja „Tohuwabohu“ getauft werden (vgl. Track 13) – daKunze macht Musik.jpg aber der Ostberliner Musiker Andre’ Herzberg (Ex-„Pankow“) zur selben Zeit ein so betiteltes Opus vorgelegt hatte, entschied man sich für „Kunze: Macht Musik“
Das waren noch Zeiten. Beim neuen Kunze-Buch "Saldo Mortale" hat er's dann nicht mehr so gemacht. Wer kann sich nicht noch an Hamburgs Rapper Dendemann und dessen "Saldo Mortale" erinnern (siehe auch bei http://www.youtube.com/watch?v=q_36AwvQ3x4). Der hatte seinen Text/seine Platte schon 2003 draußen. Sechs Jahre später folgt nun das HRK-Buch gleichen Titels.

Bisher hatte Heinz doch immer Wert darauf gelegt, dass seine Buchtitel Unikate sind. Oder hat er "Saldo Mortale" vor 2003 geschrieben? Kann eigentlich nicht sein, denn das Buch soll ja Texte aus den Jahren 2007 bis 2009 enthalten. - Wer weiß das was drüber?
"Ich habe nie gelogen. Und ich habe mich stets um eine Mischung aus Erlebtem und Erfundenem bemüht, weshalb der Cocktail aus beidem auch immer ein bisschen anders war als der vorige." (HRK im SPIEGEL / Januar 2001)
An
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Re: 28* HRK-Remaster Projekt (2009)

Beitrag von An »

Ich denke mal, dass HRK (ebenso wie ich) weder den Rapper Dendemann noch seinen Song kennt. Im Übrigen ist der Titel (eine Abwandlung von Salto mortale) eine passende Reaktion auf die viel beschworene Finanzkrise sein. 2003 gab es diesen Bezug noch nicht.
Ghosti
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Re: HRK-Remaster Projekt AKTUELL

Beitrag von Ghosti »

S.N.O.W. hat geschrieben:Das waren noch Zeiten. Beim neuen Kunze-Buch "Saldo Mortale" hat er's dann nicht mehr so gemacht. Wer kann sich nicht noch an Hamburgs Rapper Dendemann und dessen "Saldo Mortale" erinnern
Ich zum Beispiel, ich kann mich nicht erinnern. Nicht weil ich ihn vergessen hätte, ich hab einfach noch nie was von "Rapper Dendemann und dessen 'Saldo Mortale'" gehört.
Ich erinnere mich aber an ein 2002 erschienenes Buch von Ruth Morgenegg: "Artgerechte Haltung", Untertitel "Ein Grundrecht auch für Meerschweinchen".
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