Mutter Kunze ist gestorben

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MartinB
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Mutter Kunze ist gestorben

Beitrag von MartinB »

Moin liebe Leute,

eben kam via Leuchtfeuer eine traurige Nachricht, die ich hier erstmal unkommentiert reinkopiere:

---

Am 21. März ist die Mutter von Heinz Rudolf Kunze gestorben. Aus diesem
Grund musste das Konzert in Gerolstein auf den 29. Mai verschoben und das
Konzert in Lahr abgesagt werden; ob es einen Ersatztermin für dieses „Gemeinsame
Sache“-Konzert geben wird, steht noch nicht fest.

Heinz Rudolf Kunze hat seinen Schmerz in einem Text verarbeitet und ihn
exklusiv auf seiner Homepage veröffentlicht:


Anläßlich des Todes meiner Mutter am 21. 3. 2010

Am Lebensende hat sie Gott verflucht,
weil sie sich sicher war: es gibt ihn nicht.
Sie hat ihn nie gewissenhaft gesucht,
er war ihr eine äußerliche Pflicht.

Sie fühlte sich zu oft von ihm gequält,
zu hart geprüft, zu kalt im Stich gelassen.
Ein Schöpfer, der noch jedes Sandkorn zählt,
war ihr egal. Sie konnte ihn nicht fassen.

Ein deutsches Mädel aus der großen Zeit,
an der beinah die ganze Welt verreckte.
Dem Führer gab sie gläubig das Geleit,
bis sie zu spät begriff, was in ihm steckte.

Vertrieben. Ausgebombt. Mit Flucht im Blick.
Ihr Leben war nur ein Zusammenzucken.
Sie wollte und sie wollte nicht zurück,
bis sie zu müde war vom vielen Ducken.

Ihr Glück war meistens nichts als Wundstarrkrampf,
jahrzehntelang gepeinigt von Migräne.
Der Titel ihres Daseins war: mein Kampf.
Im Schatten dieser blutigen Hyäne.

Nie hat sie einen Hauptgewinn gelost,
Das Schönste waren ihre kleinen Hände.
Sie schlug sich tapfer. Ohne jeden Trost.
So ging ein Leben unversöhnt zu Ende.
Tod der Musikindustrie!
MartinB
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Re: Mutter Kunze ist gestorben

Beitrag von MartinB »

Heinz hat auf seiner Homepage einen weiteren Text zu diesem Thema veröffentlich:

Beisetzung

Man stelle sich vor, es gäbe
jetzt auch lKEA-Särge.
Endmöbel Ole. Zum Selberbauen.
Natürlich fehlen immer Schrauben.

Und in der entsprechenden Abteilung
läuft ein Lied vom Band,
auf der Endlosschleife: Einer geht noch,
einer geht noch rein.

Heute haben wir Mutters Urne
neben Vaters in die Erde gestellt.
Blumen mußten wir uns borgen
von entfernten aber anwesenden Verwandten:

Die Friedhofsgärtnerei war geschlossen, und wir,
wir waren wieder mal
zu nichts gekommen.
Als ich mein Schippchen Sand

Auf das Behältnis kippte,
fragte ich mich, wie lange ich sie
nicht mehr Mama genannt habe.
Machs gut, Mama.

Du machst das schon.
Du findest immer was.
Es war ein sonniger Frühlingstag,
aber windig und kalt

Im Schatten.
Jetzt stelle ich mir vor,
daß Asche
flüstern kann.


Dieser Text gefällt mir sehr, was ich über den ersten Text ganz und gar nicht sagen kann. Ich denke, es ist nun genug pietätvolle Schweigenszeit vergangen und möchte etwas Kommentarsenf dazu loswerden.

Als ich "Anlässlich des Todes meiner Mutter" das erste mal las, war ich entsetzt. Was für ein liebloser, kaltbitterer und hartherziger Nachruf, dachte ich. Dass Heinz sowas verfassen und sogar veröffentlichen mochte fiel mir schwer zu verstehen. Ich fühlte mich abgestossen und war ganz und gar nicht einverstanden. Mein anfängliches Mitgefühl verwandelte sich in milde Sorge über den Geisteszustand meines Lieblingskünztlers. Milde deshalb, weil mir schon klar war, dass Heinz sich sehr schlecht gefühlt haben muss beim schreiben und ihm wegen dieses Ausnahmezustandes mildernde Umstände eingeräumt werden mussten.

Als Fan war ich schwer enttäuscht von diesem Text. Ausser Zorn, Verbitterung und besonders bei den letzten Zeilen abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit hatte Heinz nichts anzubieten zu diesem Thema? Auch handwerklich fand ich einiges auszusetzen - so gewalttätig hat Heinz selten gereimt. Wunstarrkrampf auf mein Kampf gereimt zu sehen tut mir weh. Der Satz "Ihr Glück war meistens nichts als Wundstarrkrampf" ist sprachrhythmisch schwer zu ertragen. Vor dem Hintergrund solcher wunderbarer Stücke über den Tod wie Möglich, Find mich eines Morgens oder Abschied muss man üben hätte ich - wenn überhaupt - etwas ganz anderes erwartet...

...wahrscheinlich sowas ähnliches wie jetzt die "Beisetzung". Das ist ein Text so ganz nach meinem Geschmack und vereint etliche Aspekte kunzescher Sprachgewalt aufs vortrefflichste. Der ganz eigensinnige weltverdrehende Heinz-Humor ist anfangs ebenso im Angebot wie wunderschön anrührende Lyrik am Ende. Mein Wortschatz ist wieder um ein Neuwort bereichert (Endmöbel, wie geil!) und das ganze fühlt sich vielschichtig stimmungsvoll an. In sparsamer Ungereimtheit schildert Heinz gut nachvollziehbar den Vorgang auf dem Friedhof und seine eigenen Befindlichkeiten dabei, findet auch noch Platz für eine Schippe Selbstironie. Seine schlichtschönen Abschiedsworte an seine Mama transportieren Hoffnung, Vertrauen, Einverstandensein. Und das ganze braucht nur 123 Worte! Wow, ich bin sehr beeindruckt.

"Beisetzung" versöhnt mich mit "Anlässlich...". Zunächst finde ich es im Nachhinein ganz schön mutig von Heinz, dass er uns das Ding überhaupt so spontan anvertraut hat. Die beiden Texte sind formal und inhaltlich krass entgegengesetzt und ergänzen sich doch in wundersamer Weise. Gemeinsam betrachtet lassen sie erahnen, in welchem Gefühlsspektrum Heinz in den letzten Wochen unterwegs war und was er dabei durchgemacht hat. Überhaupt ist es erstaunlich, dass Heinz einen so tiefen Blick in sein Innenleben zulässt. Dieser wäre ohne "Anlässlich..." nicht so vollständig zu verstehen. Auf diese Weise lässt Heinz uns wirklich Anteil nehmen an seiner Trauerarbeit, und dafür gebührt ihm Respekt und Dank.
Tod der Musikindustrie!
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