DIE WELT ONLINE [9.3.2007]

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EwigGestrieger
Draufgeher
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Beitrag von EwigGestrieger »

Freitag, 9.3.2007 Liebes Fernsehtagebuch, gestern hätte ich fast nach dem Fernsehgucken noch ein Buch hervorgeholt. Ich ließ es dann aber bleiben, weil ich die Geschichte gar nicht nachschlagen musste. Ich kenne sie gut, und sie gehört zu meinen liebsten Gleichnissen: Des Kaisers neue Kleider. Irgend jemand müsste den ganzen Grand-Prix-Experten im Fernsehen mal zurufen: „Der Kaiser hat ja gar nichts an!“. Weil sie jedes Jahr so tun, als sei der Grand Prix der Höhepunkt popmusikalischer Entwicklung, als würden regelmäßig gigantische Karrieren durch diesen Wettbewerb gestartet, und als hätte das Geschehen nachhaltige Bedeutung. Das stimmt nicht. Musik funktioniert anders. Sie wartet nicht auf Termine, sondern bricht sich einfach Bahn. Deswegen haben es Castingshow-Stars auch so schwer: Wenn die Unterstützung der regelmäßigen TV-Sendungen vorbei ist, fehlt ihnen oft der Schub, weil da eben nichts ist, was – aber das wissen wir ja alles. Ich habe meinem Nachbarn Erik vor Jahren mal geraten, am Grand Prix teilzunehmen, wenigstens am deutschen Vorentscheid. Erik ist Rockstar von Beruf, seine Band „Subway to Sally“ ist wahrscheinlich die bekannteste unbekannte BandBildDeutschlands. Jede neue Platte hoch in den Charts, Tausende tobende Fans bei den Konzerten, aber nie Radio oder Fernsehen. Hardrocker-Schicksal.
Ein Millionenpublikum hätte Erik und den Seinen bei der Arbeit zusehen können, aber ich glaube, „Subway to Sally“ haben nicht mal darüber nachgedacht. Sie wussten um die Kraft ihrer Ideen, und sie gingen eben den Weg, der für sie vorgezeichnet war. Das hat lange auch Heinz Rudolf Kunze getan, einer meiner ganz großen Helden. Gestern sah ich ihn beim Grand-Prix-Vorentscheid, wie er ein mittelmäßiges Lied vor großem Publikum präsentierte. Ich spürte bis aufs Sofa, wie unwohl er sich dabei fühlte, weil er noch nie gut mit den Wölfen heulen konnte. Aber er war der Versuchung erlegen, dass Millionen Zuschauer ihn sehen konnten, und nun musste er da durch, musste sich mit den Monrose-Sternchen vergleichen lassen und musste sogar lügen, wie aufgeregt er doch sei. Ein Profi mit fast 30 Jahren Bühnenerfahrung, lächerlich. Früher war das Fremdschämen beim Grand Prix nicht so ernst, es war richtig lustig. Talentfreie Leute sangen Lieder, die zu Recht vor der Sendung nicht veröffentlicht worden waren. Danach meistens auch nicht. Heute hat der Grand Prix viel von seinem unfreiwilligen Humor verloren. Beim Vorentscheid singen richtige Sänger ordentliche Titel, und beim Finale sieht man verbissene Osteuropäer beim Kampf um den Sieg. Das ist weder lustig noch peinlich, sondern nur langweilig, und am Ende stimmt eine former yugoslav republic für die andere, als hätte es auf dem Balkan niemals Krieg gegeben. Glaube mir, liebes Fernsehtagebuch, der Kaiser hat heute so wenig an wie immer. Nur macht es ihm nichts mehr aus, wenn er dabei erwischt wird.
Quelle http://www.welt.de/fernsehen/article748 ... _frei.html

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