
Ein Millionenpublikum hätte Erik und den Seinen bei der Arbeit zusehen können, aber ich glaube, „Subway to Sally“ haben nicht mal darüber nachgedacht. Sie wussten um die Kraft ihrer Ideen, und sie gingen eben den Weg, der für sie vorgezeichnet war. Das hat lange auch Heinz Rudolf Kunze getan, einer meiner ganz großen Helden. Gestern sah ich ihn beim Grand-Prix-Vorentscheid, wie er ein mittelmäßiges Lied vor großem Publikum präsentierte. Ich spürte bis aufs Sofa, wie unwohl er sich dabei fühlte, weil er noch nie gut mit den Wölfen heulen konnte. Aber er war der Versuchung erlegen, dass Millionen Zuschauer ihn sehen konnten, und nun musste er da durch, musste sich mit den Monrose-Sternchen vergleichen lassen und musste sogar lügen, wie aufgeregt er doch sei. Ein Profi mit fast 30 Jahren Bühnenerfahrung, lächerlich. Früher war das Fremdschämen beim Grand Prix nicht so ernst, es war richtig lustig. Talentfreie Leute sangen Lieder, die zu Recht vor der Sendung nicht veröffentlicht worden waren. Danach meistens auch nicht. Heute hat der Grand Prix viel von seinem unfreiwilligen Humor verloren. Beim Vorentscheid singen richtige Sänger ordentliche Titel, und beim Finale sieht man verbissene Osteuropäer beim Kampf um den Sieg. Das ist weder lustig noch peinlich, sondern nur langweilig, und am Ende stimmt eine former yugoslav republic für die andere, als hätte es auf dem Balkan niemals Krieg gegeben. Glaube mir, liebes Fernsehtagebuch, der Kaiser hat heute so wenig an wie immer. Nur macht es ihm nichts mehr aus, wenn er dabei erwischt wird.
Quelle http://www.welt.de/fernsehen/article748 ... _frei.html